In seinem Heimatort Jeumont stehen viele hinter Benjamin Pavard. Foto: AFP

Es gibt Orte im Nordosten von Frankreich, die sind bettelarm. Auch deshalb ist Benjamin Pavard, der erfolgreiche VfB-Verteidiger und Shootingstar in der französischen Fußball-Nationalmannschaft, für viele Menschen in Jeumont mehr als ein Fußballer. Ein Besuch in Pavards Heimatstadt.

Jeumont - Der Ball hat schon bessere Zeiten gesehen. Viel bessere. Die Luft ist raus, viele Nähte, die einst die Sechsecke aus Kunstleder zusammenhielten, sind aufgeplatzt. Und doch wird er getreten, immer wieder. Dann fliegt er mit einem Zischen über den Bolzplatz aus Asphalt. Acht Jungs kicken voller Elan, und stets wenn ein Schuss im Tor landet, eine Grätsche gelingt oder ein Dribbling Erfolg hat, ertönen laute Rufe – euphorisch, begeisternd, stolz. „Wie Pavard!“ – „So macht es Benjamin!“ – „Weltmeister!“ Willkommen in Jeumont. Willkommen in der Heimat von Benjamin Pavard.

Ein Kicker auf dem Feld, das ringsum von hohen Zäunen umgeben ist, sticht heraus. Er spielt in Socken, damit die anderen eine Chance haben, trägt ein schwarzes T-Shirt und Vollbart. Djadri Madjid (25) macht Tor um Tor, und irgendwann erzählt er von früher. Als er noch im Verein gespielt hat, im Jugendteam von U.S. Jeumont, an der Seite von Pavard. „Er war viel jünger als die anderen, war auf allen Positionen stark“, sagt Madjid, der Erzieher geworden ist, „er war ein Riesentalent, hat viel härter gearbeitet als alle anderen. Wir sind sehr stolz auf ihn.“

Mit neun Jahren verlässt Pavard seinen Heimatort

Stolz. Es ist das Wort, das immer wieder fällt, wenn die Menschen in Jeumont über den Jungen sprechen, der mit neun Jahren aus ihrer Stadt auszog, um die Fußballwelt zu erobern. Erst ging er zum OSC Lille, 2016 dann zum VfB Stuttgart. An diesem Sonntag kann Benjamin Pavard (22) mit dem französischen Nationalteam Weltmeister werden. Er schreibt ein modernes Märchen, und das erste Kapitel spielt in Jeumont.

Etwas mehr als 10 000 Menschen leben in der Arbeiterstadt, doch viele von ihnen sind ohne Job. Die Arbeitslosigkeit im armen Teil des Nordostens von Frankreichs beträgt 25 Prozent, manchmal sogar mehr. Viele im strukturschwachen Jeumont, das von Backsteinhäusern und alten Fabrikgebäuden geprägt ist, sind auf der Suche – nach Orientierung, nach Perspektiven, nach Hoffnung. Für Benjamin Saint-Huile ist Pavard deshalb nicht nur ein Fußballer, der es nach ganz oben geschafft hat. Er ist ein Vorbild. „Wenn die Leute ihn spielen sehen, spiegelt sich in ihren Augen das Licht der Hoffnung“, sagt der Bürgermeister von Jeumont, „er ist für uns ein großes Geschenk.“

Politischer Doppelpass

Saint-Huile (35) ist Sozialist. Als er vor elf Jahren ins Amt gewählt wurde, war er in ganz Frankreich der jüngste Bürgermeister einer Stadt mit mehr als 10 000 Einwohnern. Er weiß, was es heißt, früh Verantwortung zu übernehmen für sich und für andere. Das sei ähnlich wie in einem Fußballteam, erklärt er, auch dort müssten sich besonders die jungen Spieler jeden Tag neu beweisen, jeden Tag noch härter arbeiten als die anderen, jeden Tag noch bessere Leistungen zeigen. Für ihn gilt das ebenfalls. Wenn Saint-Huile nicht liefert, werden bei der nächsten Wahl in Jeumont noch mehr Menschen ihr Kreuz bei der extremen Rechten machen. 30 Prozent tun dies schon jetzt. Weshalb der Bürgermeister mit Pavard, dem jungen Wilden des französischen Fußballs, politisch den Doppelpass spielt. „Wir sind sehr stolz – auf ihn, auf seine Familie, auf unseren Teil von Frankreich“, sagt er, „und dieser Stolz ist der Kitt unserer Gesellschaft. Ohne diesen Stolz haben wir keine Zukunft. Benjamin ist ein Fußballer, ich weiß. Aber für uns bedeutet er so unendlich viel mehr.“

Der berühmteste Sohn der Stadt

Dabei haben viele den derzeit berühmtesten Sohn ihrer Stadt bis vor ein paar Wochen gar nicht gekannt. Als klar war, dass Pavard im französischen WM-Kader steht, haben sie deshalb drei Banner anfertigen lassen. „Allez les Bleus“ ist darauf zu lesen. Und: „Tous Derrière – wir stehen alle hinter dir“. Ein Plakat hängt an einem Kreisverkehr am Ortseingang, eines in der Innenstadt, eines am Bahnhof. Dort ist in einem Raum, in dem ansonsten kulturelle Veranstaltungen stattfinden, eine Fanzone eingerichtet. 500 Menschen werden am Sonntag zum Finale gegen Kroatien erwartet. Enthusiasmus geht zwar anders an, aber seit Pavards jetzt schon legendärem Tor im Achtelfinale gegen Argentinien hat die Zahl der französischen Flaggen an Häusern, in Vorgärten und an Autospiegeln doch deutlich zugenommen. „Mittlerweile wissen alle, dass er einer von uns ist“, sagt Hamza Farchich, „jetzt ist er so bekannt wie Pogba oder Griezmann.“

Farchich (29) ist der Präsident von U.S. Jeumont. Der Verein hat 250 Mitglieder, die Männer spielen in der zehnten Liga, es gibt zehn Jugendteams und nun einen Superstar, der hier seine ersten drei Jahre als Fußballer erlebte. Seit die WM läuft, gehen täglich Anfragen von Journalisten bei Pavards Ex-Club ein. TV, Radio, Zeitungen – alle befinden sich auf der Suche nach seinen Wurzeln und graben immer wieder ähnliche Zitate aus. „Mit sechs Jahren konnte er den Ball 50-mal hochhalten, mit rechts, mit links, mit dem Kopf“, erinnert sich Ex-Trainer Sullivan Skiba, „er war schon in diesem Alter ein kompletter Spieler.“ Auch beim OSC Lille, wo Pavard im Jugendinternat lebte, ist (zumindest im Nachhinein) niemand von seinem rasanten Aufstieg überrascht. „Er hat große Fähigkeiten und großen Ehrgeiz“, meint sein früherer Mitspieler Corentin Halucha, „wir wussten schon damals, dass er alles dafür tun wird, um seine Ziele zu erreichen. Der Zug kam, er ist eingestiegen – und jetzt reist er erste Klasse.“ Was auch Jean-Michel Vandamme, den Direktor des Leistungszentrums des OSC Lille, nicht verwundert: „Ihm geht es um Perfektion. Pavard konnte von klein auf das Spiel lesen, war sehr gut in der Analyse und im Umgang mit dem Ball. Er ist entschlossen, alles zu erreichen.“ Ohne dabei den Anfang zu vergessen.

Pavard leistet sportliche Aufbauarbeit

Wenn der VfB-Profi nach Jeumont zurückkehrt, um seine Eltern zu besuchen, schaut er oft auf dem Sportplatz vorbei, an dessen Rand eine baufällige Tribüne steht. Pavard leistet dort sportliche Aufbauarbeit, wenigstens ein bisschen. Er spielt mit den Nachwuchskickern des Vereins, die nicht nur zu ihm aufschauen, weil er ein oder zwei Köpfe größer ist. „Die ganzen Erfolge haben ihn nicht verändert. Er hat kein Tattoo, zeigt nicht, was er hat. Er ist der Typ, der er immer war“, sagt Clubchef Hamza Farchich und lehnt sich an den Zaun, der das Sportgelände umgibt, „für uns als Verein ist das großartig. Einen wie ihn wird es nie wieder geben.“ Und, natürlich: „Wir sind sehr stolz auf ihn.“

Das sind auch die Eltern. Nathalie und Frédéric Pavard leben in der schönsten Siedlung von Jeumont direkt am Feldrand, der Wald ist nicht weit. Vor dem großen Backsteingebäude parkt ein weißes Auto mit Stern, ein Geschenk des Kickers an seine Mutter. Die Rollläden sind heruntergelassen, klar, die Pavards sind in Russland, um ihr einziges Kind zu unterstützen. Auch sonst ist der Kontakt sehr eng. Bei den Heimspielen im 550 Kilometer entfernten Stuttgart sind die Eltern des Innenverteidigers Stammgäste, und Vater Frédéric, der als Lagerist arbeitet, ist sein wichtigster Ratgeber. „Er hat mit 17 Jahren in der dritten Liga gespielt, den endgültigen Sprung aber nicht geschafft – auch, weil ihm seine Eltern nicht so helfen konnten, wie er mir jetzt“, sagt Benjamin Pavard, der geerdete Typ, dem Bindungen und Vertrauen so wichtig sind, „er kritisiert mich immer, aber im positiven Sinne. Er will mich nach vorne bringen.“

Gratis-Haarschnitt als Belohnung

Das hat bisher ganz gut geklappt. Bei der EM 2016 in Frankreich jubelte Benjamin Pavard der Équipe tricolore noch bei den Fanfesten zu, jetzt ist er selbst ein Teil des Teams. Das freut auch Alain Duciel. Er besitzt ein Friseurgeschäft in Jeumont, und er liebt die unkonventionelle Lockenpracht des Nationalspielers. „Das ist extrem naturell, könnte einen Trend setzen“, sagt der Coiffeur und verspricht Pavard lachend für seinen nächsten Besuch in Jeumont einen Gratis-Haarschnitt: „Aber nur, wenn er Weltmeister wird!“ Die Aussichten sind nicht schlecht – für Benjamin Pavard und für seine Frisur.