In Backnang dirigiert Gudrun Riethmüller einen ganz besonderen Chor. Foto: Edgar Layher

Im Ich-kann-nicht-singen-Chor des Verbands Friedrich Schiller herrscht keine Angst vor falschen Tönen. Mitmachen darf jeder, der gern singen möchte.

Backnang - Ein Schild vor der Backnanger Matthäuskirche weist den Weg. „Ich-kann-nicht-singen-Chor“ steht darauf zu lesen. Im Saal des Gemeindezentrums hat sich bereits ein bunt zusammen gewürfelter Haufen an diesem Samstagnachmittag zu der ungewöhnlichen Chorprobe eingefunden. Rund 20 Frauen und Männer unterschiedlichen Alters sitzen durcheinander vor einem Flügel.

Von einer Aufteilung nach Stimmlagen, wie sonst in einem Chor üblich, ist in der Sitzordnung nichts zu erkennen. Liedhefte liegen für sie aus. Doch Noten zu den Liedversen sucht man in diesen vergeblich. Da viele der Teilnehmer damit eh nichts anfangen könnten, habe sie die Noten weggelassen, erklärt Gudrun Riethmüller. Sie leitet den Ich-kann-nicht-singen-Chor, kurz IKNS.

Singen in Gemeinschaft ist schön

Was hat es damit auf sich? „Das Ziel ist es, die Leute vor allem singen zu lassen und nicht herumzukritisieren“, erklärt Riethmüller. Ohne Druck und ohne den nächsten Auftritt bereits im Kopf zu haben, dürfe einfach darauf los gesungen werden. „Das kommt in einem normalen Chor oft zu kurz.“

So finden sich in der Gruppe, deren Proben offen für jeden sind, auch langjährige Chorsänger, wie etwa Anita Gnann-Hass. Die Ehrenpräsidentin des Chorverbands Friedrich Schiller , die in ihrer aktiven Zeit als Verbandsvorsitzende den IKNS-Chor im Oktober 2016 mit ins Leben gerufen hat, lässt es sich nicht nehmen, selbst regelmäßig an den Proben teilzunehmen. „Das Singen in Gemeinschaft ist einfach schön, es ist gesund für die Lunge und hält geistig fit und rege“, sagt die 71-Jährige, die von Jugend an in Chören mitgesungen hat und ein Leben ohne Chorgesang nicht vorstellen kann.

Das Selbstbewusstsein wächst

Daher habe sie das Erlebnis des gemeinsamen Singens - nach dem Vorbild großer offener Singtreffs, wie es sie in Großstädten wie Stuttgart oder Hamburg zuvor schon gab – auch allen ermöglichen wollen, die es sich bislang nicht getraut haben, in einen Chor zu gehen. „Viele haben in der Schulzeit den Mut verloren, weil ihnen gesagt wurde, sie könnten nicht singen. Aber wir haben alle unsere Stimme.“

Dass sie nicht singen könne, glaubte lange auch Ester Traichel von sich. „Dabei singe ich gern“, sagt die Backnangerin über den Jahre langen inneren Zwiespalt zwischen gerne wollen, aber nicht trauen. Andere haben körperliche Einschränkungen bislang davon abgehalten, in einen Chor zu gehen, so etwa Elisabeth Müller. „Wegen meiner Augenprobleme kann ich nicht gleichzeitig auf ein Notenblatt schauen und auf einen Dirigenten achten“, erklärt die Seniorin. Der IKNS-Chor aber habe ihr Selbstbewusstsein gegeben.

Ein nahezu blinder Sänger singt die Texte auswendig

Ähnlich geht es Grischa Singarajah. Der 29-Jährige aus Spiegelberg ist fast blind. „Er singt alles auswendig und ohne zu stottern, wie sonst beim Sprechen“, berichtet Beate Singarajah über ihren im Rollstuhl sitzenden Sohn, während dieser vollkommen im Gesang versunken ist. Wiederum andere haben ihre Freude am Singen erst durch den IKNS-Chor entdeckt. Dazu zählt Rudolf Scholz aus Auenwald, der von seiner Frau Ellen „mitgenommen wurde“. „Als ich dann hier war, war ich begeistert.“ Seither komme er regelmäßig zur Probe. „Aber fest in einem Verein singen, das wäre nichts für mich.“

Doch so unterschiedlich die Sänger und ihre Beweggründe beim IKNS-Chor mitzumachen sind: Es muss sich niemand fürchten, einen falschen Ton zu singen. Die Probenteilnehmer setzen dennoch zunächst verhalten ein. Aber Gudrun Riethmüller gelingt es schnell, ihnen die Hemmungen zu nehmen. So kommen sie in Schwung, singen sie immer kräftiger bei Frühlingsliedern, Schlagern und Gospelsongs auf Deutsch, Englisch, Hebräisch und in afrikanischer Sprache mit, während Riethmüller sie am Flügel oder auf einem Cajón trommelnd begleitet.