Claas Relotius mit dem „CNN-Journalist-Award“. Seine Reporterpreise gab er am Donnerstag zurück. Foto: dpa

Wie eine Frau aus der amerikanischen Kleinstadt Fergus Falls die Fälschungen und Lügen des „Spiegel“-Reporters Claas Relotius über ihre Heimatstadt aufdeckte.

New York - Michele Anderson hatte gemischte Gefühle, als eine Bekannte ihr im Februar 2017 berichtete, dass ein deutscher Reporter zu Gast in ihrem Heimatort Fergus Falls sei, einer Kleinstadt im ländlichen Minnesota, mitten in der Weite der Prärie zwischen den Appalachen und den Rocky Mountains. In jenen Tagen nach der Wahl von Donald Trump wurde viel über das ländliche Amerika gesprochen.

„Die Journalisten, die damals über uns schrieben“, führte Anderson diese Woche auf Twitter aus, „kamen immer zu einem von zwei Schlüssen: Entweder wir sind tumb, rückwärtsgewandt und leben in der Vergangenheit. Oder wir sind liebenswerte Tierchen, die nur ein wenig Zuwendung brauchen, damit wir nicht den Rest der Welt bei lebendigem Leib verspeisen.“

Hoffnung auf den Reporter

Dennoch, schreibt Anderson, habe sie ein wenig Hoffnung geschöpft, als sie hörte, der Deutsche arbeite beim „Spiegel“. Das Magazin war der vermeintlichen Provinzlerin als international renommiertes Medium vertraut, der Reporter würde doch sicher ein differenziertes Bild ihrer Heimat und deren Menschen zeichnen.

Der Reporter, der Fergus Falls besuchte, war Claas Relotius. Am Mittwoch gab der „Spiegel“ bekannt, dass der 33-jährige Redakteur nach aufwendigen internen Recherchen zugegeben hat, viele seiner preisgekrönten Reportagen großteils oder sogar ganz erfunden zu haben. Unter anderem hat Relotius viermal den deutschen Reporterpreis bekommen – die Auszeichnungen gab er am Donnerstag zurück. Das Magazin bezeichnet den „Fall Relotius“ in seiner 70-jährigen Geschichte als „Tiefpunkt“ und will nun alles aufarbeiten.

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Schock bei den Einwohnern

Entsprechend groß war der Schock auch bei Michele Anderson, als sie den Artikel in die Hand bekam, der nach den drei Wochen Recherche entstand. „Relotius hatte aus den Menschen unserer Stadt, mit denen ich täglich zu tun habe, Comic-Figuren gemacht, die nicht wiedererkennbar waren“, schreibt Anderson. Sie wollte nicht ertragen, dass man auf der anderen Seite der Welt so über ihre Stadt denkt.

Also machte sich Anderson mit einem Freund daran, den Text zu überprüfen. Anschließend schrieben sie eine Gegendarstellung, die sie aus gegebenem Anlass nun im Medienmagazin „Medium“ veröffentlicht haben. Die beiden belegen, dass Relotius wohl nur nach Fergus Falls gekommen war, um alle Klischees über das ländliche Amerika der Trump-Wähler bestätigt zu finden. Das meiste in dem Text hat er frei erfunden.

Viele Details erfunden

Das fing an mit der Hauptfigur: der Stadtvorsteher Andrew Bremseth, der laut Relotius mit 27 Jahren noch nie mit einer Frau geschlafen hat, eine Pistole am Gürtel trägt und noch nie das Meer gesehen hat. Anderson veröffentlicht ein Foto von Bremseth mit seiner Partnerin am Strand. Eine Pistole, versicherte Bremseth gegenüber Anderson, besitze er nicht.

Auch eine angeblich ausverkaufte Kinovorstellung des kriegsverherrlichenden Clint-Eastwood-Films „American Sniper“ lief in Fergus Falls 2017 definitiv nicht. Ebenso ist die mexikanische Restaurantbesitzerin Maria Rodriguez falsch dargestellt. Sie sei angeblich nierenkrank und habe wegen Problemen mit der Krankenversicherung Trump gewählt. Die wahre Maria Rodriguez ist gesund, arbeitet als Kellnerin und hat nie mit Relotius gesprochen.

Anderson hofft auf Verständigung

Jetzt, schreibt Anderson, sei sie froh, dass Relotius nicht mit ihr gesprochen hat. Allerdings bedauert sie auch die vertane Chance. „Natürlich haben wir hier Probleme mit Rassismus, und es gibt Trump-Wähler“, schreibt sie. Doch „was wir in dieser Zeit brauchen, ist nicht das Verstärken von Vorurteilen, sondern Wege, um uns gegenseitig besser zu verstehen“. Dabei hat Relotius’ Text nicht geholfen. Im Gegenteil.