Beweglich wie eh und je: der Depeche-Mode-Sänger Dave Gahan beim Konzert in der Schleyerhalle Foto: Lichtgut - Oliver Willikonsky

Die britische Synthieband Depeche Mode hat am Dienstagabend in der ausverkauften Stuttgarter Schleyerhalle gespielt.

Stuttgart - Eine Setlist ist mehr als nur die Übersicht über neunzig oder hundert Minuten Musik. Sie ist ein Seismograf für das Befinden einer Band, ein Seelenbarometer. Was also sagt die Repertoire-Zusammenstellung über das Innenleben von Depeche Mode im Herbst 2017 aus? Sagen wir es so: Die britischen Synthiepopper haben ihre Musik fit gemacht für die veränderte gesellschaftliche Großwetterlage, sie verschwenden keinerlei Zeit an eine retrospektivische Haltung. Ein nostalgischer Blick zurück findet in der mit laut Veranstalterangaben zwölftausend Besuchern ausverkauften Schleyerhalle trotz vieler Wiederbegegnungen mit der eigenen Vergangenheit jedenfalls nicht statt.

Die Unschuld der achtziger Jahre, der Hedonismus der Neunziger – war da was? „Where’s the Revolution?“, fragen Dave Gahan, Martin Gore und Andrew Fletcher stattdessen im Schlüsselsong ihres aktuellen Albums „Spirit“. Inwieweit Depeche Mode mit ihren Thesen von prärevolutionären Zeiten, ihren Reflexionen über die heraufziehende Ära des Postkapitalismus den Zeitgeist nur aufnehmen oder ihn selbst prägen, das bleibt auch in Stuttgart eine offene Frage – eine der lässig ausbalancierten Paradoxien der Popkultur, die der Gesellschaft gern den Puls fühlt und ihr die Leviten liest, sich aber zugleich für fürstliche Gagen an sie verkauft. Auch bei Depeche Mode reichen die Eintrittspreise mittlerweile in den dreistelligen Bereich. Minuten nach Konzertende reisen die musikalischen Revolutionsverkünder im kommoden Kleinbus schon wieder recht geschäftsmäßig ab, wohl ins nahe Luxushotel. Immerhin scheint keiner der drei Musiker sein Geld in dubiosen Steuerparadiesen angelegt zu haben, dafür ist man ja in diesen Zeiten schon dankbar.

Griff in die Testosteronkiste

Satte zwei Stunden zuvor startet das live zum Quintett verstärkte Trio mit „Going backwards“ recht verhalten. Doch schon hier deutet sich die Modernität im Sound an, die panzerschrankartige Massivität, die „Spirit“ zum Ereignis macht. Nur zwei weitere Songs dieses Albums finden sich danach im Programm: außer „Where’s the Revolution“ lediglich das sphärisch-pluckernde „Cover me“. Und doch durchdringt der Geist von „Spirit“ alle weiteren Songs dieses zwanzig Titel starken Auftritts. Selbst gut abgehangene Ware wie „Everything counts“, Baujahr 1983, klingt nun wie mit Botox und Testosteron aufgepumpt – stählern, wuchtig, straff.

Nun arbeiten die Basildon-Boys schon seit vielen Jahren an der Transformation ihrer Musik, daran, ihr den Niedlichkeitscharakter der Anfangsjahre auszutreiben. Für Frühwerke wie „New Life“ oder „Just can’t get enough“ braucht sich die Band sicher nicht zu schämen, aber anno 2017 entsprechen solche drolligen Leichtgewichtskompositionen einfach nicht mehr dem Geist der Zeit. Doch nicht nur die einstige New-Romantic-nahe Songsprache ist einer neuen Sachlichkeit und Härte gewichen, dankenswerterweise bleibt derzeit auch die Phase der 2000er Jahre außen vor, als Depeche Mode sich und ihr Publikum mit räudigem Elektroblues und zerklüfteten Soundlandschaften quälten, die sich anhörten wie der Kampfstern Galactica kurz vor dem Auseinanderbrechen.

Zwar schrillen die Synthies von Andrew Fletcher auch in der Schleyerhalle immer wieder wie die Alarmsirenen eines U-Boots, dennoch kommt die Musik nun als schlackenloser Synthierock daher. Angesiedelt ist dieser Sound auf einer – am Status einer Supergroup gemessen – fast nackten Bühne. Der Laufsteg, der sich in den Innenraum hinauszieht, ist für Schleyerhallen-Verhältnisse eher unterdimensioniert. Die obligatorische Minibühne für ein Akustikset inmitten des Publikums fehlt gleich ganz. Als einziges Showelement schmückt eine unauffällige Empore den Bühnenhintergrund, dahinter spannt sich nur noch eine Videowand, auf der neben psychedelischen Computeranimationen auch manche Absonderlichkeiten flimmern. Zu „Enjoy the Silence“ etwa eine neonfarbene Version von „Brehms Tierleben“.

Sound von eiserner Autorität

Doch die spärliche Ausstattung hat auch ihr Gutes und trägt zur Konzentration auf die Musik bei, ebenso wie auf den Frontmann Dave Gahan, der als Hohepriester dieser musikalischen Messe mit manierlich gedrehten Pirouetten und etlichen Pas de deux mit dem Mikrofonständer alle Blicke auf sich zieht: ein schwarzer Schwan, gesegnet mit den sieben Leben einer Katze. Fit wirkt der schon mehrfach dem Tod von der Schippe gesprungene Gahan – ganz im Gegensatz zum ziemlich zerknitterten Martin Gore, der aber mit „Insight“ und „Home“ zwei dunkle Balladen mit schöner Intimität interpretiert. Vor allem aber ist es Christian Eigner, der mit eiserner Autorität den Sound steuert. Dass der gebürtige Wiener schon seit „Ultra“-Zeiten (1997) als Tour-Drummer wirkt, wird gerne übersehen, ist aber unüberhörbar. Sein Groove hält den Bandsound stärker auf Kurs als viele Gitarren- und Synthiemelodien. Eigners Beat macht auch „Precious“ mit eisig funkelnder Gitarre zum ersten Eisbrecher des Abends. Drum herum füllen Fletcher und der Tour-Keyboarder Peter Gordeno die Lücken zwischen den Beats immer wieder mit Synthieloops auf oder feuern elektronische Störgeräusche auf die Songs ab.

Mit „Where’s the Revolution“ biegt der Abend dann auf die Zielgerade ein, mit „Everything counts“ und „Enjoy the Silence“ wird er zur Erlösungsmesse: Partystimmung in der Schleyerhalle, vierundzwanzigtausend Hände klatschen, wedeln. Ein vier Kapitel starker Zugabenblock mit „Question of Time“ und „Personal Jesus“ als Rausschmeißer beendet danach in der Schleyerhalle eine mitreißende, musikalisch höchst zeitgemäße Show, in der „People are People“ und „Master & Servant“ allerdings durchaus noch Platz gehabt hätten.

Vielleicht beim nächsten Mal wieder, wenn eine der drei größten Popbands der Szene hoffentlich noch immer voll auf der Höhe der Zeit agiert.