Black Lives Matter kämpft gegen die Unterdrückung von Afroamerikanern. (Symbolfoto) Foto: AP/Nardus Engelbrecht

Die Graswurzelbewegung startet 2013 als Hashtag und wird schnell zur Stimme der schwarzen Community. Nicole Hirschfelder forscht seit Jahren zu Black Lives Matter und fordert die Debatte über Polizeigewalt in den USA hinaus zu führen.

Stuttgart - Die Demonstrationen und Unruhen in den Vereinigten Staaten nach dem Tod George Floyds schwappen nach Europa über. Im Netz trendet der Hashtag #blacklivesmatter und am „Blackout Tuesday“ fluteten für 24 Stunden zahlreiche Posts schwarzer Quadrate die sozialen Medien. Anfang der Woche haben in Frankreich mehrere tausend Menschen trotz eines Versammlungsverbots gegen Polizeigewalt demonstriert. Auch in Stuttgart sind am Samstag zwei Demonstrationen gegen Rassismus geplant. Black Lives Matter („Schwarze Leben zählen“) trifft nicht nur den Nerv der schwarzen Community. Dabei steckt hinter dem Slogan viel mehr als nur ein digitales Gemeinschaftsgefühl.

Für die Amerikanistin Nicole Hirschberger von der Universität Tübingen ist die aktuelle Wucht des Protests keine große Überraschung. Sie setzt sich seit mehreren Jahren wissenschaftlich mit Black Lives Matter auseinander und weiß: „Die Strukturen und Netzwerke des Protests waren schon da.“ Eine Chronologie wichtiger Ereignisse soll einen Überblick zu der Entstehung von Black Lives Matter geben.

Drei Frauen gründen die Bewegung

Die Geschichte der Bewegung beginnt im Februar 2012. Der 17-jährige Afroamerikaner Trayvon Martin wird in Florida von dem privaten Sicherheitsmann George Zimmermann erschossen. Zunächst nimmt die Polizei den Todesschützen nicht fest, 2013 wird Zimmerman vom Mordvorwurf freigesprochen. Nach dem Urteil, das landesweit Empörung nach sich zieht, schreibt die schwarze Aktivistin Alicia Garza auf Facebook, dass „unsere Leben etwas bedeuten“ und ihre Freundin Patrisse Khan-Cullors benutzt zum ersten Mal den Hashtag #blacklivesmatter, um auf das Gerichtsurteil und den Rassismus gegenüber Schwarzen in den USA aufmerksam zu machen. Kurz darauf gründen die beiden Frauen gemeinsam mit der Menschenrechtsaktivistin Opal Tometi die gleichnamige Organisation.

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Sieben Jahre nach der Gründung ist die Bewegung weit über den Status virtueller Empörung hinausgewachsen. Black Lives Matter ist hierzulande vor allem ein Synonym für rassistische Polizeigewalt und Diskriminierung, in den USA dagegen entwickelte sich rasch eine sehr aktive Protestbewegung.

Intersektionalität und Queerness als Grundpfeiler

Die Bewegung sei dezentral und in lokalen Untergruppen organisiert, berichtet die Amerikanistin Hirschfelder. Zwar gelten Garza, Khan-Cullors und Tometi als Gründerinnen, verstünden sich aber nicht als Führung der Bewegung. „Es gibt viele Leaders“, sagt Hirschfelder. Sie betont allerdings, dass die drei Frauen das ideologische Fundament des Netzwerks maßgeblich mitgeprägt hätten. So verfolge die Bewegung von Beginn an einen queeren Ansatz. Das heißt, Black Lives Matter will alle schwarzen Menschen einschließen, unabhängig von Sexualität sowie Geschlechtsidentität. Das Netzwerk begreife sich zudem als intersektional: Eine Perspektive, die Unterdrückung im Zusammenhang mit allen sozialen Ungleichheiten und Machtverhältnissen betrachtet. „In diesen Punkten unterscheidet sich Black Lives Matter von der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den 60er und 70er Jahren“, sagt Hirschfelder.

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2014 gewinnt die Bewegung nach dem Tod eines jungen Mannes namens Michael Brown an Aufmerksamkeit. Der schwarze 18-Jährige wird auf offener Straße mit sieben Schüssen von einem Polizisten getötet, woraufhin es in vielen Städten der USA zu teils gewaltsamen Straßenprotesten kommt. Nur wenige Wochen vorher ist der 43 Jahre alte Eric Garner auf Staten Island von einem Polizisten wegen des illegalen Verkaufs einzelner Zigaretten zu Tode gewürgt worden. In beiden Todesfällen entscheiden sich die Justizbehörden gegen ein Ermittlungsverfahren.

Videos tödlicher Polizeieinsätze als Katalysator

Im Fall Garner erhält vor allem ein Youtube-Video Aufmerksamkeit. Wie George Floyd ruft auch Garner kurz vor seinem Tod „I can’t breathe“ („Ich kann nicht atmen“). Wie bei Floyds Tod hält eine Kamera die polizeiliche Brutalität fest. Die Amerikanistin Hirschfelder findet diese Parallele problematisch: „Offenbar braucht es dieses brutale Filmmaterial, um bei Weißen Aufmerksamkeit für Polizeigewalt zu erzeugen. Der schwarzen Community wurde und wird nur ohne dieses Material kein Glauben geschenkt, was viel über den Stand der Rassismusdebatte aussagt.“ Nach den beiden Todesfällen von Brown und Garner wird der Hashtag in den USA zum Wort des Jahres 2014 gekürt. Danach werden die wiederkehrenden tödlichen Gewalttaten von Polizisten gegen Schwarze vehementer diskutiert.

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Im März diesen Jahres widmet das „Time Magazine“ den Gründerinnen von Black Lives Matter ein Cover im Rahmen ihrer „100 Frauen des Jahres“-Serie. Gleichzeitig führt die überdurchschnittlich hohe Covid-19-Sterblichkeitsrate in der schwarzen Bevölkerung den US-Amerikanern die tödlichen Folgen der sozialen Ungleichheit vor Augen. Nach dem Tod Floyds entlädt sich kurz darauf die Wut der afroamerikanischen Community in einer gigantischen Protestwelle. Der tödliche Polizeieinsatz in Minneapolis brachte das Fass zum Überlaufen, erklärt die Amerikanistin Hirschfelder.

Debatte nicht auf Polizeigewalt beschränken

Die Wissenschaftlerin stört sich daran, dass sich in Deutschland oft an dem Schlagwort „Polizeigewalt“ festgebissen wird, wenn es um Rassismus in den USA geht. Diese sei nur der extremste Fall der strukturellen Gewalt, die schwarze Menschen dort erfahren, „sie zieht sich jedoch durch alle gesellschaftlichen Bereiche und bietet damit dieser physischen Gewalt einen Nährboden“, sagt Hirschfelder.

Sie kritisiert auch den Fokus auf die kleine Minderheit der Demonstrierenden, die nicht vor Gewalt und Sachbeschädigungen zurückschreckt: „Die Empörung über brennende Läden steht nicht in Relation zu der tödlichen Diskriminierung, von der schwarze Menschen seit Jahrhunderten betroffen sind.“

Weiße Solidarität soll nicht Selbstzweck sein

„Der Blick in die USA kann ein Spiegel für die deutsche Gesellschaft sein“, sagt Hirschfelder. Hierzulande würden viele Leute zur Selbstgefälligkeit neigen, indem sie schwarze Opfer von Polizeigewalt als Einzelfälle betrachteten und Rassismus als rein US-amerikanisches Problem pathologisierten. Struktureller und tödlicher Rassismus sei auch ein deutsches Problem.

Als Deutscher mit weißer Hautfarbe solle man versuchen, eine ehrliche Auseinandersetzung mit sich selbst zum Thema Rassismus zu führen und die eigene Rolle zu reflektieren. Ernst gemeinte Solidarität mit den Protesten sei ein guter Anfang, aber Solidarität dürfe nicht Selbstzweck und nicht Ziel der Auseinandersetzung sein. „Wir müssen lernen das Thema Rassismus langsamer und tastender anzugehen, die Menschen nach ihren Erfahrungen fragen, erfahren, ob sie mit uns sprechen wollen und gegebenenfalls mehr zuhören”, sagt Hirschfelder.