Nicht nur im Friseurhandwerk müssten vielerorts die unteren Tariflöhne angehoben werden, sollte der gesetzliche Mindestlohn plötzlich auf zwölf Euro steigen. Foto: Julia Schramm

Der gesetzliche Mindestlohn von derzeit 9,19 Euro pro Stunde reicht vielen Fachleuten längst nicht mehr aus, um Armut wirksam zu bekämpfen. Nun erheben einige Gewerkschaften und diverse Parteien zwölf Euro zur neuen Messlatte. Die Debatte erhält eine überraschende Dynamik.

Stuttgart - Die SPD will es, die Linke sowieso, seit wenigen Tagen auch die Grünen – und sogar Teile der CDU setzen sich dafür ein: In der Politik wächst die Zustimmung für einen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von zwölf Euro. Dies wäre eine massive Anhebung um derzeit 2,81 Euro.

Der Grünen-Parteitag am Wochenende hat neuen Schwung in die Debatte gebracht: „Wir wollen als Sofortmaßnahme eine Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro, damit Vollzeiterwerbstätige von ihrer Arbeit auch leben können“, heißt es im Beschluss der Ökopartei. Sie wolle die Mindestlohnkommission reformieren und ihren Entscheidungsspielraum stärken; zudem sollen die Vertreter der Wissenschaft darin ein Stimmrecht erhalten. „Die Anpassung des Mindestlohns darf sich nicht mehr nur allein an der Tarifentwicklung orientieren.“

„Seit der Einführung um kümmerliche 69 Cent gestiegen“

Selbst die CDU, deren Bundesparteitag an diesem Freitag beginnt, muss sich damit befassen: Dort macht sich der Arbeitnehmerflügel CDA für eine Erhöhung stark. „Eine sofortige Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro würde nach unserer Einschätzung Arbeitsplätze gefährden“, sagte der CDA-Landesvorsitzende Christian Bäumler unserer Zeitung. Die CDA befürworte jedoch eine schrittweise Anhebung auf diesen Wert. „Diesen Weg wollen wir über eine Reform der Mindestlohnkommission begehen.“

Das Gremium solle sich nicht mehr an der statistischen Lohn- und Gehaltsentwicklung orientieren, sondern an der Frage, wie hoch der Lohn sein muss, damit er ein Leben in Ballungsräumen und eine Rente oberhalb der Grundsicherung ermöglicht. „Ihren Job hat sie alles andere als gut gemacht“, heißt es im Antrag für den Parteitag. Die Spielräume seien nicht genutzt worden. „Deshalb ist der Mindestlohn seit seiner Einführung um kümmerliche 69 Cent gestiegen.“ In Leipzig wird es die CDA mit einem starken Wirtschaftsflügel zu tun bekommen, der das Vorhaben wie die Wirtschaftsverbände strikt ablehnt. Er sei „gegen die sozialpolitische Relevanz des Mindestlohns“, sagt Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA).

Chef der Kommission weist Vorstoß zurück

Auch der Vorsitzende der Mindestlohn-Kommission, Jan Zilius, ist erwartungsgemäß wenig angetan: Er bezeichnet den Plan eines Mindestlohnsprungs gegenüber unserer Zeitung als „fragwürdigen Eingriff in die Tarifautonomie, weil heute knapp 30 Prozent aller Beschäftigten weniger als zwölf Euro je Stunde verdienen“. Mit anderen Worten: dann müssten Gewerkschaften und Arbeitgeber an vielen Stellen zwingend nacharbeiten, um ihre tariflichen Untergrenzen über die neue Hürde zu heben. Zilius bewertet die Debatte als Versuch, den Mindestlohn zur Armutsbekämpfung zu nutzen. „Dies kann er als arbeitsmarktpolitisches Instrument aber nicht leisten.“ Denn weniger als 30 Prozent der Personen, die in armutsgefährdeten Haushalten leben, bezögen ihn. Und lediglich ein Viertel der armutsgefährdeten Personen gingen einer Erwerbstätigkeit nach. Somit „kann ein höherer Mindestlohn nur selten dazu beitragen, dass sie nicht mehr armutsgefährdet sind oder gute Rentenanwartschaften aufbauen“.

Schützenhilfe bekommen die Befürworter von einschlägiger wissenschaftlicher Seite: Der Arbeitssoziologe Gerhard Bosch von der Universität Duisburg-Essen mag sich zwar nicht auf die zwölf Euro festlegen. Doch sagt er: „Ich halte es für machbar, den Mindestlohn in mehreren Schritten stärker zu erhöhen, als es die im Gesetz fixierte Formel der nachlaufenden Orientierung an den Tarifverträgen heute vorsieht.“ Schließlich sei die Bundesregierung vor vier Jahren aus der berechtigten Sorge vor Arbeitsplatzverlusten in Ostdeutschland mit 8,50 Euro relativ niedrig eingestiegen. Die neutralen Beschäftigungseffekte des Mindestlohns belegten zudem, dass es Handlungsspielräume gebe.

IG Metall legt sich beim Mindestlohn nicht fest

Nicht ganz eindeutig ist die Linie der Gewerkschaften: Verdi hat die zwölf Euro auf ihrem Gewerkschaftstag in Leipzig neulich beschlossen – die IG Metall hat auf ihrem Bundeskongress in Nürnberg hingegen keine dezidierte Positionierung vorgenommen. „Wir lösen es über die Tarifverträge“, argumentiert eine Sprecherin. Die Lohnuntergrenze sei relevanter für die Gewerkschaften mit den großen Niedriglohnbranchen.