Mit „Mali Blues“ von Lutz Gregor beginnt am Mittwoch das SWR-Doku-Festival: Afrikanische Musiker müssen sich hier gegen den Wahn der Islamisten behaupten. Foto: Festival

Drei Tage lang will das neue SWR-Doku-Festival vom 28. Juni an im Stuttgarter Metropol spannende Dokumentarfilme zeigen. Doch der Skandal um den öffentlich kontrovers diskutierten Film „Ausgegrenzt und auserwählt“ überschattet das Festival.

Stuttgart - Wer nicht jeden Tag die Branchenkalender der Filmindustrie studiert, aber trotzdem einen ungefähren Überblick über die Entwicklung der Filmfestivallandschaft wahren möchte, der kann sich an eine kleine Faustregel halten: Alle Orte, die ans Stromnetz angeschlossen sind, haben mindestens ein Filmfestival. Alle Orte, an denen der Bürgermeister nicht noch während der Rathauszeiten mit dem Gülletraktor über den Acker rumpelt, haben eher zwei oder mehr.

Angesichts dieser funktionierenden Grundversorgung mit Filmfestivals fällt es schwer, für noch einen weiteren Einer-dicht-am-anderen-Schaulauf Aufmerksamkeit, Begründungen und Perspektiven zu finden. Der Fernsehjournalist und Filmemacher Goggo Gensch, der Leiter des neuen SWR-Doku-Festivals, das vom 28. bis 30. Juni im Metropol läuft, weiß das. Darum schlägt er gleich mit dem ersten Satz seines Grußwortes im Festivalkatalog einen Pflock ein. „Liebe Festivalbesucher“, steht da zu lesen, „keine Kunstform ist geeigneter, über den Zustand der Welt Auskunft zu geben, als der Dokumentarfilm.“

Langfilme statt Häppchen

Dabei behilft sich dieser Bodycheck gegen Theater, Spielfilm, Literatur & Co. nicht einmal mit der Polsterung, es seien ja alle Formen des dokumentarischen Bewegtbildes gemeint, also die schwindelerregende Addition aller kurzen Nachrichtenclips, mittleren Magazinbeiträge, längerer TV-Reportagen und epischer Liveberichte. Gensch spricht weder von Häppchen noch vom Unsortierten, sondern nur vom ausgewiesenen Langfilm für Kino und Fernsehen, also von ein- bis zweistündigen, ausgeklügelten Montagen von Bildern, Worten und Gedanken, von einer Spezies, die es neben Popcornkino und Sportübertragungen selten leicht hat, größere Zuschauermengen auf sich aufmerksam zu machen.

Das aber beirrt Gensch nicht im Beharren auf den enormen Qualitäten des Dokumentarfilms: „Er fungiert als Informationsmedium, als Grundlage für den gesellschaftlichen Diskurs und ist ein emotionales Ereignis.“ Information und Emotion, dafür genügt ein einzelner Zuschauer. Damit Filme Grundlage des Diskurses werden, braucht es mehr, und diese große Debatte bleibt meist bloße Hoffnung. Im Zeitalter der aufgeregten Schrottnachrichten im Internet, die Information durch süß stinkende Leimfallen für die Klicks der Aufmerksamkeitszerstreuten ersetzen, muss der Dokumentarfilm mehr denn je darum kämpfen, wahr genommen zu werden.

Rechtzeitig zum Skandal

Immerhin, das Festival könnte aktueller und brisanter nicht sein. So heftig wie selten wird gerade über einen Dokumentarfilm gestritten, über die Antisemitismus-Doku „Ausgegrenzt und auserwählt – Der Hass auf Juden in Europa“. Arte und WDR wollten ihre Auftragsarbeit zunächst ungesehen verschwinden lassen, und als das nicht gelang, griffen sie die Filmemacher heftig an. Der WDR gestaltete die Doch-noch-Ausstrahlung zu einem unseriösen Anklagetribunal, das sein journalistisches Ansehen schwer beschädigt hat.

In den Begegnungen am Rand des Festivals, wohl auch in manchem moderierten Gespräch in der Doku-Lounge im Haus der Katholischen Kirche wird der Skandal eine Rolle spielen. Denn das neue Festival dockt an wichtige, bereits existierende Branchentreffs an, das Kommen der Filmemacher ist also gewiss. Der vom Stuttgarter Haus des Dokumentarfilms ausgerichtete Machertreff Dokville, der stets wichtige Themen von Kunst und Geschäft im Dokumentarbereich auffächert, zieht von Ludwigsburg nach Stuttgart. Hier wird nun auch – von jetzt an jährlich statt alle zwei Jahre – der Deutsche Dokumentarfilmpreis verliehen. Das Festival ist auch das Schaufenster dieser beiden Veranstaltungen, das die Öffentlichkeit darüber informieren soll, was hier läuft, Sorgen macht und begeistert.

Andres Veiels Dokumentarfilm „Beuys“ etwa, der ganz aus Archivmaterial aufgebaut ist, zieht Zuschauer in die Denk- und Arbeitswelt des kantigen Künstlers hineinziehen. Den Profis aber stellen sich angesichts der Unmengen in vielen Archiven zerstreuten Beuys-Materials sofort andere Fragen, die bei Dokville geklärt werden: Wie hat Veiel das Material recherchiert, wie gesichtet und gewertet, und wie hat er bei den vielen Artefakten – beim Footage, wie die Branche sagt – die komplizierte Rechtelage geklärt? Wobei damit nur einer der drei F-Komplexe angesprochen wäre, die das Dokville-Programm ankündigt: „Fakes, Fakten, Footage“.

Islamisten und Informanten

Vielleicht weist der erste Film, den man beim Festival am Mittwoch um 11 Uhr sehen kann, „Mali Blues“ von Lutz Gregor, aufs eine Extrem des Doku-Angebots: Etwas in die Welt der Bilder zurückzuholen, das von anderen, vermeintlich wichtigeren Bildern verdrängt wird. Gregor will von den Wurzeln des Blues und damit des Pop in Afrika erzählen, aber sein Porträt von Musikern wird dann auch eine Geschichte über den Herrschaftsanspruch von Islamisten – auch wenn die Welt bei diesem Thema sonst nicht nach Mali schaut.

Das andere Extrem des Dokumentarfilms – das Hineingehen ins Zentrum der Debatten mit erhellenden neuen Informationen – führt ebenfalls am Mittwoch um 19.30 Uhr Matthias Bittners Abschlussfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg, „Krieg der Lügen“ vor. Bittner erzählt die Geschichte jenes irakischen Chemieingenieur, dessen Informationen über Massenvernichtungswaffen zur Invasion im Irak führten. Bittner geht der Frage nach, wer wen belogen, wer wen benutzt hat – und wie manipulierbar die Weltpolitik sogar im Großen ist. Er tut, was der Festivalmacher Gensch Dokumentarfilmen begeistert zuspricht: „Sie sammeln und ordnen die Bilder und weisen einen Weg aus der Unübersichtlichkeit.“