Noch immer eine Freundin der großen Pose: die Sängerin Madonna Foto: Universal Music

Die amerikanische Sängerin Madonna legt ihr neues Album „Madame X“ vor. Es ist ein Stück Weltmusik – allerdings der unerwarteten Sorte.

Stuttgart - Heißa, da war vor einigen Wochen die Aufregung groß, als Madonna beim Eurovision Song Contest „Like a Prayer“ zum Besten gab. Was war passiert? Eine sechzigjährige Frau sang ein Lied, das sie exakt dreißig Jahre zuvor aufgenommen hatte, mit entsprechend gereifter Stimme und in einer neu arrangierten Version. Sie singe ja gar nicht mehr mit der gleichen Stimme und das Lied klinge ja auch ganz anders, lauteten daraufhin die erstaunlich scharfen Vorwürfe – vorgebracht von Menschen, die offenbar sehr lange keiner Liveperformance mehr gelauscht haben. Zudem entzündete sich die Kritik daran, dass Madonna zwei ihrer in eine israelische und eine palästinensische Flagge gehüllte Tänzer sich am Ende umarmen ließ – und das doch bei einem vermeintlich unpolitischen Wettbewerb, als den sich der ESC bezeichnet, der 2019 wohlgemerkt in einem Land im Nahen Osten stattfand, das als politisches Pulverfass bekannt ist.

„Es gibt nur einen Weg, um Kritik zu vermeiden: nichts tun, nichts sagen, nichts sein.“ – Dieses Aristoteles-Zitat stellte Madonna der Kritik an ihrem Auftritt in Israel souverän entgegen. Wie richtig der Ausspruch im Hinblick auf außenpolitische Untätigkeit ist, ist hinreichend bekannt. Dass Musiker selbstverständlich das Recht auf Teilhabe am politischen Diskurs haben – zumal wenn ein Appell zu Frieden und Versöhnung intendiert ist –, möchte hoffentlich niemand in Zweifel ziehen; aber das nur am Rande.

Kleiner Ausschnitt, großes Spektrum

Denn Madonna sang in Tel Aviv einen 1989 veröffentlichten Welthit, dem seinerzeit bereits die Welthits „Holiday“, „Like a Virgin“, Material Girl“, „Into the Groove“, „Papa don’t preach“, „True Blue“ und „La Isla Bonita“ vorausgingen und dem danach Welthits wie „Frozen“, „Hung up“, „Music“ und viele andere mehr folgen sollten. Das allein ist Weltklasse. Einige dieser Songs wird die mit weitem Abstand auch kommerziell erfolgreichste Sängerin aller Zeiten zudem demnächst auf einer gewiss ausverkauften Tournee rund um den Globus unter anderem mit allein elf Konzerten in London spielen. Ein künstlerischer Sinkflug, wie er von ein paar Kommentatoren nach dem Song Contest flugs herbeifabuliert wurde, sieht ganz gewiss anders aus.

Neben einigen dieser Popklassiker (alle davon könnte sie ja an einem Abend gar nicht spielen, dazu hat sie viel zu viele) wird’s dann auf dieser Tournee, bei der in Europa bisher nur die Auftrittsreigen in London, Paris und ihrer neuen Wahlheimat Lissabon angesetzt sind, natürlich auch Songs aus dem an diesem Freitag erschienenen neuen Album geben. Auf alle Konventionen der Musikindustrie pfeifend, hat Madonna bald die Hälfte der 13 neuen Songs vorab häppchenweise schon einzeln gratis zur Verfügung gestellt, der Rest folgt nun in diversen Varianten von der Hörkassette über die Doppel-Picturedisc-Schallplatte bis zur limitierten De-luxe-Prachtbox.

Vielzüngiges Vergnügen

Gesungen wird auf Spanisch (vom kolumbianischen Reggaetonsänger Maluma in „Medellin“), Portugiesisch (von Madonna selbst) sowie von ihr auf Englisch, als Gäste sind neben Maluma die US-Rapper Swae Lee und Quavo sowie die brasilianische Sängerin Anitta dabei, produziert haben Mike Dean (Kanye West, Jay-Z) und ihr alter französischer Spezi und Songschreiber Mirwais, mit dem sie bereits das Album „American Life“ einspielte.

Das klingt nach vielerlei Einflüssen, und die hört man auch auf dem erwartungsgemäß blitzsauber, aber ebenfalls erwartungsgemäß mit Autotune und Vocodereinsatz ordentlich aufpolierten Album „Madame X“. Zum einen will sich auch Madonna, die bereits mehrfach ihre Nähe zum Hip-Hop unter Beweis gestellt hat, den sprechgesangsvernarrten Zeitläuften nicht verschließen, wie die beiden Kollaborationen mit den Rappern zeigen: der – allerdings reggaeschwangere – Song „Future“ mit Quevo und das äußerst poplastige Werk „Crave“ mit Swae Lee. Für den starken Latinoeinschlag dieses Albums stehen allein schon Songtitel wie „Medellin“ und „Bitch I’m loca“ mit Maluma, zwei coole Beispiele für sehr geglückten Cross-over. Der erwachten Liebe zur Musik ihrer neuen Heimat, zum Fado und dem kapverdischen Morna, frönt sie im portugiesisch gesungenen „Faz gostoso“ schließlich nur bedingt – wie das ganze Album verströmt auch dieser Song beim besten Willen alles andere als Trübsinn.

Künstlerische Disparität könnte man angesichts der vielfältigen Einflüsse nun vermuten, aber es klingt vielmehr, als wolle Madonna die Vielfältigkeit einer auch musikgeschmacklich globalisierten Welt zusammenführen. Und so hört sich dieses Album überaus zeitgemäß an, es ist Weltmusik im besten Sinne. Die Grundlage ist und bleibt freilich – da kann Madonna nicht aus ihrer Haut heraus – klassischer und reinrassiger Dancebeat nebst einer auf ewige Jugend gezüchteten und auch 35 Jahre nach ihrem Karrierebeginn noch immer nicht reif klingenden Singstimme.

Weg vom Altbekannten

„Madame X“ ist ein an jeder Stelle hörbar gutes Pop-, allerdings an den Maßstäben dieser Künstlerin gemessen nicht herausragendes Madonna-Album. Will man dieses Werk in ihrem künstlerischen Œuvre verorten, sollte man nicht ihre Discoklassiker als Maßstab nehmen (einen sich umgehend herauskristallisierenden Riesenhit sucht man auf „Madame X“ ohnehin vergebens), sondern eher ihr Repertoire mit einem zumindest gewissen Zug zum Unkonventionellen. Man könnte sich dazu den mit Björk geschriebenen Song „Bedtime Story“ in Erinnerung rufen oder das mit ihrem Schwager, dem Alternative-Songwriter Joe Henry, eingespielte Stück „Don’t tell me“. Und wer sucht, der findet auch hier. Das vorletzte Stück auf „Madame X“ besticht mit einem differenziert wabernden Bassbeat, zittrig gebrochenen Beats und nervösen Keyboards darüber und zeigt, welches Potenzial Madonna noch immer beziehungsweise immer wieder abrufen kann.

„I don’t search I find“ heißt das Stück bezeichnenderweise. Es klingt bei dieser so selbst- wie sendungsbewussten, immer noch außerordentlich experimentierfreudigen und nach wie vor vorzüglichen Popmusikerin wie ein Lebensmotto.