Gereifte Herren: Der Tastentüftler Andy Fletcher, der Sänger Dave Gahan und der Gitarrist und Keyboarder Martin Gore (von links) bilden die Popband Depeche Depeche Mode. Foto: Anton Corbijn

Die Band Depeche Mode legt ihr neues, vielfältiges und gelungenes Album „Spirit“ vor. Bald vierzig Jahre nach ihrer Gründung zeigt sie allen Nachfolgern, warum sie noch immer die stilprägende Formation in der elektronischen Musik ist.

Stuttgart - Mister Martin Lee Gore aus Los Angeles, Mister David Gahan aus New York und Mister Andrew John Fletcher, der in England lebt, sind drei sehr erfolgreiche Geschäftsleute. Seit 24 Jahren bringen sie in kalendarischer Präzision alle vier Jahre ein neues Fabrikat auf den Markt, das ihre bisherige Produktpalette ergänzt. Parallel zu der Produkteinführung lassen sie weltweit eine Medienmaschinerie auf Hochtouren laufen, um das Erzeugnis entsprechend zu lancieren. Anschließend begeben sie sich auf eine Verkaufstournee rund um den Globus, die seit vielen, vielen Jahren einem ewig gleichen Ritus folgt: Bei den Veranstaltungen werden einige Teile des neuen Produkts sowie die bekanntesten Bestandteile der früheren Produkte vorgeführt. Anschließend gehen die drei Herren auseinander, kehren in die Abgeschiedenheit ihres Familienkreises zurück und genießen die Früchte ihres Erfolgs, ehe sie etwa zwei Jahre später jeder für sich wieder damit beginnen, sich neue Bestandteile für ein neues Produkt auszudenken – um dann nach vier Jahren den Kreislauf von Neuem beginnen zu lassen.

So unken manche Spötter über den jüngeren Weg von Depeche Mode und führen als Beleg für Langeweile, den routinierten Merkantilismus und den vermeintlichen Marsch in die künstlerische Bedeutungslosigkeit je nach Gusto eines oder mehrere der letzten Alben an. Und ja: Sie haben stellenweise natürlich recht, einige der letzten Werke waren schon etwas blass.

Die erfolgreichste Popband der Welt

Trotzdem wird man damit der erfolgreichsten Popband der Welt nicht gerecht. Denn da wäre ja die Vorgeschichte, bevor dieser zugegebenermaßen maschinell gestanzt wirkende Veröffentlichungszyklus 1993 mit dem Album „Songs Of Faith And Devotion“ in Gang gesetzt wurde. Da wären die Schulfreunde aus dem englischen Provinznest Basildon, die noch längst nicht zwanzigjährig 1981 ihr Debütalbum mit ihrem ersten Hit „Just Can’t Get Enough“ veröffentlichten. Da wären allein „Leave In Silence“, „Everything Counts“, „People Are People“ und „Master And Servant“, „A Question Of Lust“ und „Stripped“, „Never Let Me Get Down Again“ und „Behind The Wheel“ sowie „Personal Jesus“ und „Enjoy The Silence“, die zehn Welterfolge der folgenden sechs Alben, von denen jeder für sich allein reichen würde, um lebenslangen Ruhm zu begründen. Mal ganz davon abgesehen, dass der vermeintliche Wendepunkt „Songs Of Faith And Devotion“ den nächsten Welthit „Walking In My Shoes“ bereithielt und in der Summe mittlerweile weit über einhundert Millionen verkaufte Tonträger und mehr als dreißig Millionen Konzertbesucher bei der Band zu Buche stehen.

Der Kommerzvorwurf geht schon deshalb ins Leere, weil er – wenn überhaupt – wohl weitaus eher auf die frühesten Jahre der Band zu richten wäre, als sich Depeche Mode von Hitparadenshow zu Hitparadenshow durchreichen ließen. Heutzutage indes gibt es für die mehr als gemachten Männer keinerlei Veröffentlichungsdruck, und dass die Band bei der bald anstehenden Tournee nicht in kleinen Eckkneipen, sondern in Sportarenen auftritt, ist natürlich auch der Nachfrage geschuldet.

Allein für die neun Auftritte in Deutschland (darunter diesmal leider keiner in Stuttgart, aber ein Hallentournachschlag im Herbst ist laut dem Sänger Dave Gahan schon geplant) sind bereits mehrere Hunderttausend Tickets verkauft.

Die Messlatte liegt hoch

Dennoch: Wo kein Veröffentlichungsdruck herrscht und Musiker alle Zeit der Welt haben, in Ruhe ihr Material auszutüfteln und über ihre Arrangements nachzugrübeln, liegt die Messlatte natürlich besonders hoch, insbesondere bei einer Band, die – Fluch der guten Taten aus der Vergangenheit – sie ja eigentlich sowieso nicht mehr überqueren kann. Stellen wir uns daher einfach mal dumm und betrachten das an diesem Freitag erschienene 14. Studioalbum von Depeche Mode so, als hätten wir noch nie etwas von dieser Band gehört.

Los geht es auf „Spirit“ mit dem fast sechsminütigen Stück „Going Backwards“, einem wuchtigen, druckvollen Eröffnungstrack, einem wirklich hervorragenden Popsong. Ehrlich gesagt: Er tönt so souverän, wie es keine andere Elektropopband heutzutage hinbekommt, womit die Frage nach den langen Schatten der Vergangenheit auch schon hinlänglich beantwortet wäre. Weiter geht’s auf „Spirit“ mit dem nächsten Fünfminüter „Where’s The Revolution“, der ebenfalls wärmstens zur Nachahmung empfohlen werden kann – jedenfalls allen, die auch gerne einmal etwas Hymnisches komponieren wollen, bei dem klangsatte Opulenz nicht mit billigem Bombast verwechselt wird.

Daneben gibt es, mehr oder weniger ausschließlich auf elektronischen Instrumenten hergestellt, scharfen Industrialbeat („Scum“), viele Reminiszenzen an kühle Achtziger-Synthie-Ästhetik („You Move“), galanten Sanftmut („Eternal“), pathetische Vaudeville-Gesten („Poison Heart“), Selbstreferenzen („So Much Love“) und zurückgelehnte Songwriterkunst („No More“). Alles blitzsauber aufgenommen und vom neuen Mann auf dem Produzentenstuhl in Szene gesetzt, James Ford von Simian Mobile Disco. er hat dem Sound eine metallische Schärfe verliehen, die man sich bei vielen anderen heutigen, mit viel studiotechnischem Firlefanz aufgebrezelten Produktionen geradezu herbeiwünschen würde.

„Fail“ heißt schließlich das letzte der zwölf Lieder auf diesem Album, bei dem von Scheitern keine Rede sein kann. Noch einmal wabert in diesem abermals fünf Minuten langen Song der famose Depeche-Mode-Düsterpop, noch einmal flackert in den Texten das diffuse Unbehagen über den Lauf des Erdenlebens auf, noch einmal zimmern Gahan und die beiden Instrumentalisten Gore und Fletcher einen stählernen Klangdom. Noch einmal so, wie es außer ihnen noch immer kaum einer hinbekommt.

Und so kann man den Weltbürgern mit britischer Vergangenheit zwar nicht zu einem epochalen Wurf gratulieren, ihnen aber doch attestieren, abermals bleibende Songs geschaffen zu haben, in stringenter Fortsetzung ihres bisherigen Schaffens und im zitatenreichen Bewusstsein um die Tradition elektronischer Popmusik. Gigantomanie mag man ihnen unterstellen. Aber dass sie langweilig geworden wären, angesichts dieses außerordentlich hörenswerten Albums gewiss nicht.