Dieses Kind und die Männer im Schlauchboot sind vor der libyschen Küste von einer Nichtregierungsorganisation gerettet worden. Foto: AP

Für Menschen aus Afrika und Asien wird die Flucht über das Mittelmeer immer gefährlicher. Im ersten Halbjahr 2018 ist einer von 19 Flüchtlingen bei der Überfahrt gestorben. Woran liegt das?

Brüssel - Das Risiko, bei der illegalen Fahrt über das Mittelmeer zu sterben, ist so hoch wie nie. In diesen Tagen ertrinkt dem UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) zufolge einer von sieben Zuwanderern auf der zentralen Mittelmeerroute. Im ersten Halbjahr 2018 ertrank einer von 19, im Vorjahreszeitraum bezahlte einer von 38 Menschen den Versuch, nach Europa zu kommen, mit seinem Leben. Bis Freitag starben damit 1408 Afrikaner und Asiaten auf dem Seeweg nach Europa, ein trauriger Rekord.

Das Ausmaß der Tragödie wird deutlich, wenn man die Zahl der Toten mit der Zahl der irregulären Grenzübertritte vom Mittelmeer aus vergleicht: Im Jahr 2016 starben so viele Menschen wie nie, 5096 Ertrunkene kamen auf 362 753 Zuwanderer, in diesem Jahr sind es, Stand jetzt, bereits 1408 Tote bei nur 46 407 Zuwanderern. Bei dramatisch gesunkenen Zuwandererzahlen – Italien erreichen derzeit 80 Prozent weniger Menschen als noch vor einem Jahr – ist das tödliche Risiko knapp doppelt so hoch.

EU rüstet die libysche Küstenwache auf

Die Gründe dafür sind darin zu suchen, dass sich gerade etwas im Zusammenspiel der Akteure auf der zentralen Mittelmeerroute ändert. Die vier Beteiligten, deren Handeln unbeabsichtigt das der jeweils anderen „Spieler“ beeinflusst, sind: die Schlepper, die Küstenwache von EU-Staaten – neben Italien und Malta sind auch Deutschland, England sowie viele andere EU-Staaten mit Schiffen und Flugzeugen präsent –, private Hilfsorganisationen und Nichtregierungsorganisationen (NGO) sowie die libysche Küstenwache.

Ziel der EU ist, irreguläre Grenzübertritte nach Möglichkeit soweit es geht zu unterbinden. Dafür rüstet sie die libysche Küstenwache auf, gibt den Libyern Schiffe und bildet sie aus. Die Bemühungen zeigen Erfolg: Allein in der vergangenen Woche hat der libysche Küstenschutz 2500 Menschen, die sich auf meist seeuntauglichen Schlauchbooten aufgemacht hatten, wieder zurück nach Nordafrika gebracht. Im Juni waren es nach UNHCR-Angaben 10 971. Neu ist, dass Italien und Malta die seit Mitte 2014 praktizierte informelle Zusammenarbeit mit den Ärzten ohne Grenzen, Sea Watch und anderen NGOs aufgekündigt haben. Italien und Malta haben für sie die Häfen dichtgemacht. Damit sind die Organisationen von Proviant und Treibstoff abgeschnitten und können zudem nicht mehr die Menschen, die sie aus Seenot gerettet haben, in der EU absetzen. Nur wenige Schiffe der NGOs wie die Aquarius, die kürzlich bis nach Marseille fahren musste, um die Flüchtlinge abzusetzen, sind für Seereisen von mehreren Hundert Kilometern geeignet. Den NGOs sind bis auf Weiteres die Hände gebunden.

Die libysche Schlepper-Mafia setzte zunehmend auf Schlauchboote

Die NGOs fallen damit als Retter im Mittelmeer aus. Damit erklärt sich die hohe Zahl der Ertrunkenen. Es hatte sich nämlich eine Art Arbeitsteilung zwischen NGOs und Küstenwache auf der zentralen Mittelmeerroute etabliert. Die EU-Behörden patrouillierten südlich der europäischen Gestade, die NGOs waren dagegen näher an der libyschen Küste unterwegs, hielten meist nur zehn bis 50 Kilometer Abstand. Etliche Hilfsorganisationen nahmen Schiffbrüchige nahe der libyschen Küste auf, übergaben sie auf hoher See Schiffen der EU-Behörden, die die Flüchtlinge dann nach Sizilien und Lampedusa schipperten.

Darauf hatte sich die libysche Schlepper-Mafia eingestellt: Sie setzte die Zuwanderer zunehmend nur noch auf Schlauchboote, mit denen die Überfahrt nach Italien und Malta unmöglich zu schaffen ist. Damit zeichnet sich ein Muster ab: Je näher die Rettungsboote den Flüchtlingen kommen, desto weniger investieren die Menschenhändler in seetaugliches Gerät und umso gefährlicher wird die Fahrt nach Europa. Wenn die Flüchtlinge Glück hatten, wurden sie in Seenot von den NGOs geortet und gerettet, die teils mit Drohnen und Flugzeugen das Gebiet absuchen. Wenn man so will, machten die Helfer den Schmugglern damit ihr Geschäft leicht. Unter Grenzschützern hört man, es sei vorgekommen, dass NGOs Zuwanderer nur 700 Meter von der libyschen Küste entfernt aufgenommen haben. Dass NGOs mit Schleppern gemeinsame Sache machen und verabreden, wann und wo Menschen in See stechen, wie in Italien gelegentlich behauptet wird, wird unter EU-Diplomaten ausgeschlossen. Doch die Organisationen werden zunehmend dafür verantwortlich gemacht, dass das Geschäft der Schlepper so problemlos funktioniert. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron warf den NGOs einen „schrecklichen Zynismus“ vor. Sie trügen dazu bei, die Gewinnmargen der Schlepper zu erhöhen. Vor der libyschen Küste sollen sich zuweilen die Boote der NGOs und der Küstenwache eine „Hase und Igel“-Spiel geliefert haben, wer am schnellsten bei Schiffbrüchigen ist. Italien und Malta drangen daher massiv darauf, dass die EU die NGOs in die Schranken weist: Im jüngsten Gipfeldokument steht nun der Satz, dass in jedem Fall die Anweisungen der libyschen Küstenwache Vorrang haben.

Macron wirft den NGOs Zynismus vor

Festzuhalten bleibt: Das Verdrängen der Hilfsorganisationen vor der libyschen Küste hat massive Auswirkungen vor Ort. Das UNHCR schätzt, dass 40 Prozent der Seenotrettung von NGOs geleistet wurde. Hinzu kommt: Das Geschäftsmodell der Helfer funktioniert bis auf Weiteres nicht mehr. Sie finanzieren sich über Spenden. Spenden fließen aber dafür, dass sie Schiffbrüchige retten und in die EU bringen. Die NGOs sind strikt dagegen, die Flüchtlinge in Libyen absetzen, wo UN-Hilfsorganisationen die humanitäre Lage als entsetzlich beschreiben.

Experten erwarten indes, dass auch die Menschenhändler reagieren werden. Schon jetzt weichen sie nach Marokko aus. Spanien hat mit 18 723 irregulären Zuwanderern in diesem Jahr bereits Italien (16 739) überholt. Ausgeschlossen wird auch nicht, dass Schlepper in Libyen wieder mehr Geld in Boote investieren und wie vor 2014 abwrackreife Schiffe für den Menschenhandel benutzen. Ausgeschlossen wird indes, dass sie ihr menschenverachtendes Geschäft an den Nagel hängen.