68er-Veteran Rezzo Schlauch: „Wir haben die Fenster aufgemacht und kräftig durchgelüftet.“ Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Für die Einen brachten die 68er Aufbruch und echte Demokratie. Für die anderen waren sie realitätsfremd und ein Angriff auf die bürgerliche Welt. Ein Besuch bei zwei prominenten Zeitzeugen aus dem Südwesten soll Klärung bringen.

Gaggenau/Stuttgart - Klaus von Trotha lädt in sein Haus in Gaggenau zum Gespräch. Wer dem früheren CDU-Wissenschaftsminister gegenübersitzt, mit dem Blick über die Dächer des badischen 1350-Seelen-Idylls Sulzbach und den sanften Ausläufern des Nordschwarzwalds dahinter, würde kaum vermuten, dass er im Oktober 80 Jahre alt wird. Und wer den großgewachsenen schlanken Mann mit Silberhaar und marineblauem Blazer über dem Rollkragenpullover sieht, würde auch nicht darauf kommen, dass er in den 60er und 70er Jahren prägende politische Erfahrungen gesammelt hat.

1968 standen sich Klaus von Trotha und Rezzo Schlauch als politische Gegner gegenüber: links der eine, konservativ der andere.

Insgesamt hält von Trotha die Studentenbewegung für einen „überschätzten Mythos“. Zwar habe sie bei der Liberalisierung der Sexualmoral, in der Alltagskultur, bei der Frauenemanzipation und mit der Entstehung der Grünen auch in der Politik ihren Niederschlag gefunden. „Irgendwie waren die 68er daran beteiligt.“ Aber: „Diese Veränderungen waren schon im Gang und hätten auch ohne die 68er stattgefunden.“

Dies sieht der Alt-Grüne und 68er-Veteran Rezzo Schlauch naturgemäß ganz anders. „Die 50er- und 60er Jahre waren in Deutschland eine völlig verkarstete Zeit“, erzählt Schlauch bei einem Treffen in einem Stuttgarter Café mit typisch raumfüllendem Bariton. Die Justiz sei braun durchsetzt, Bürgermeisterämter, Schulen und Universitäten durch und durch hierarchisch gewesen. Deutschland sei damals eine „formale“, aber keine „lebendige“ Demokratie gewesen. „Da haben wir die Fenster aufgemacht und kräftig durchgelüftet“, so Schlauch.

Initialzündung zur Politisierung

70 Jahre alt, ist er inzwischen schlanker, die kurzgeschorene Glatze breiter geworden. Seit dem Rückzug aus der Politik 2005 ist er als Anwalt und Berater für die Wirtschaft tätig. Doch dieses schwäbische Ein-Mann-Kraftwerk steckt immer noch voller politischer Energie. Wenn er argumentiert, dabei mit den Armen rudert und sich seinem Gegenüber über den Bistro-Tisch entgegenschiebt, wird Politik physisch erfahrbar.

Schlauch, langjähriger realpolitischer Landes- und Bundestags-Grüner, 1990 und 1996 Oberbürgermeister-Kandidat in Stuttgart, und in rot-grünen Zeiten Wirtschaftsstaatssekretär in Berlin, begann 1966 sein Jura-Studium in Freiburg. Damals gehörte er der schlagenden Verbindung Saxo-Silesia an. Aus sozialen Gründen, wie er sagt. Als er Ende Januar 1968 das Rededuell zwischen dem Studentenführer Rudi Dutschke und dem liberalen Vordenker Ralf Dahrendorf am Rande des FDP-Bundesparteitags in Freiburg erlebte, was das „die Initialzündung für meine Politisierung“.

1967, direkt nach dem zweiten juristischen Staatsexamen, verschlug es von Trotha an die noch junge Universität Konstanz. Schon als Student beim Ring Christlich Demokratischer Studenten (RCDS) aktiv, kam er am Bodensee schnell mit der CDU in Kontakt. Er hielt Vorlesungen zum öffentlichen Recht, klärte die Studenten über Grundrechte wie Rede- und Religionsfreiheit auf. Da erschreckte es ihn, als dieselben Studenten bei einer CDU-Veranstaltung mit Gerhard Mayer-Vorfelder „Hängt ihn auf“ brüllten. „Das hatte schon einen Hauch von Sportpalast“, meint Trotha heute in Anspielung auf eine berüchtigte Rede von Nazi-Propaganda-Minister Joseph Goebbels.

Verherrlichung von Massenmördern

Zwar war Konstanz damals nicht Berlin. Doch auch im Badischen blieb es nicht ruhig. „Man hatte laufend das Gefühl von Rechtsbrüchen“, sagt Trotha. Und ein weiteres Erlebnis von damals führte dem jungen Akademiker vor Augen, wie schnell der Rechtsstaat an seine Grenzen stößt, wenn die Menschen ihn nicht akzeptieren. In jenen aufgewühlten Tagen vor 50 Jahren schleuderte ihm ein Student bei einer der unzähligen Uni-Vollversammlungen „Sie sind ein Spitzel“ entgegen. Trotha zeigte den Übeltäter an. Der wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. Doch die Mitstudenten sammelten. „Da kam viel mehr Geld zusammen, als die Geldbuße betrug“, erzählt von Trotha. Seine Hauptkritik an den 68ern: „Ihre Irrationalität, die Selbstherrlichkeit und Intoleranz“. Und die Verherrlichung von Mördern wie Mao Tsetung oder der Roten Armee Fraktion. Go-Ins, Teach-Ins und andere subversive Aktionen, mit denen sie Lehrveranstaltungen störten, hatten in seinen Augen nichts mit Demokratie zu tun.

1968 wechselte der aus liberalem Elternhaus im hohenlohischen Bächlingen stammende Pastorensohn Schlauch nach Heidelberg. In der Herzkammer der 68er-Proteste im Südwesten demonstrierte er regelmäßig vor dem US-Hauptquartier gegen den Vietnamkrieg, wählte aber zunächst FDP. Dem Bauch-Politiker sind doktrinäre Parteisoldaten nach eigenen Aussagen auch damals schon ein Gräuel gewesen. „Ich war eher anti-autoritär und ideologisch freischaffend.“ Kommunistischen Gruppen seien für ihn immer ein „no-go“ gewesen. Aber nach links ist er schon gerückt, verteidigte in den 70ern in Stuttgart Autonome, Hausbesetzer und Spontis als Anwalt umsonst vor Gericht. In seinen Augen zählt die Auseinandersetzung mit den alten Nazis in Deutschland sehr wohl zu den Verdiensten der Protestler.

Aber warum bei vielen 68ern die Traum von der Zerschlagung des Kapitalismus und die Anbetung von Massenmördern wie Mao und später des menschenverachtenden linken Terrors der Roten Armee Fraktion? Da habe er nie mitgemacht, betont Schlauch. „Für mich galt immer: Wenn man die Menschen überzeugt, ist dieses System veränderbar.“ Und: „Gewalt war immer eine rote Linie.“ Das hätte die Mehrheit der durch und durch bürgerlichen Studentenbewegung ganz ähnlich gesehen, meint er heute. In einer derartigen radikalen Aufbruchsphase sei es normal, dass so mancher übers Ziel hinausschieße. „Da gab es so manche Irrungen und Wirrungen“, meint er unüberhörbar selbstkritisch. Mit Folgen bis heute.

Aufmerksamkeit durch 68er

Von Trotha war in Konstanz ein Außenseiter: gebürtiger Berliner, protestantischer Preuße aus sachsen-anhaltinischem Adel und an der linken Uni unter den Hochschullehrern vielleicht das einzige CDU-Mitglied. Doch die Bürger akzeptierten ihn. Er machte rasch politische Karriere: 1971 zog er für die CDU in den Kreistag, 1976 schickten ihn die Wähler in den Landtag. Von 1991 bis 2001 machte er sich als baden-württembergischer Wissenschaftsminister und Hochschulreformer etwa mit der Einführung von Studiengebühren einen Namen. Ironie der Geschichte: Die Studentenrevolte habe ihm beim Start seiner politischen Karriere geholfen. „Ohne die 68er hätte ich nie diese Aufmerksamkeit bekommen“, sagt er mit breitem Lächeln.

Für deren damalige Forderung nach einem Aufbrechen des verkrustet-hierarchischen Systems der Ordinarien-Professoren hatte von Trotha durchaus Verständnis. Doch anders als die Außerparlamentarische Opposition (APO) bestand der Christdemokrat auf der Einhaltung der Regeln der parlamentarischen Demokratie. Von sozialistischen Ideen wie der Schaffung eines neuen Menschen oder der Zerschlagung des kapitalistischen Systems hielt der liberalkonservative Christdemokat ebenfalls wenig.

Auch den Anspruch der 68er, die noch junge Bundesrepublik entnazifiziert zu haben, hält von Trotha für überzogen. Er verweist auf die Verfahren gegen NS-Verbrecher, die schon früher in Gang gekommen seien, darunter die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt. „So etwas darf nie wieder vorkommen“, sei in seinem Elternhaus das Leitmotiv gewesen. Seine Eltern, der Volkswirt Carl Dietrich und die Volkswirtin Margarethe von Trotha, arbeiteten in der Widerstandsgruppe des Kreisauer Kreises an den Grundzügen einer sozialen Wirtschaftsordnung für die Zeit nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes. Doch wie durch ein Wunder kamen sie – anders als die Hitler-Attentäter des 20. Juli – mit dem Leben davon.

Mit sich und 68 im Reinen

Unter dem Strich ist Schlauch mit sich und der Bilanz der 68er im Reinen: Politisch habe die Revolte – vom Vietnamkrieg bis zur Hochschulreform – nicht viel erreicht. In Gesellschaft und Alltagskultur dafür umso mehr, sagt er. Als Beispiele fallen ihm die Emanzipation von Frauen und Minderheiten ein. „Deutschland ist heute dank 68 eine stabile und vielfältige Demokratie mit offener Debattenkultur“, meint Schlauch. „Da verfalle ich auch nicht in Panik, weil das Pendel derzeit politisch von links nach rechts ausschlägt“, sagt er mit Blick auf Erstarken der neuen Rechten in Deutschland und Europa. https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.konzertbranche-in-stuttgart-aerger-ueber-stones-konzertkarte-fuer-20-mark.05ff7661-5547-4dd6-a12f-ccf52d72f336.html?reduced=true https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.50-jahre-manufaktur-schorndorf-so-feierte-der-kult-club-sein-grosses-jubilaeum.a9cbcc0d-f4c4-4321-8963-31062a1dbce1.html?reduced=true https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.rudi-dutschke-die-stimme-der-68er-waere-70.6e3b9c90-e1d4-4fd1-93a6-6d15f2de5662.html?reduced=true