Richard Wagners Hauptwerk „Der Ring des Nibelungen“ verlangt den Hörern einiges an Geduld ab. Doch es geht auch kürzer. Foto: dpa

Wagners Nibelungen-Zyklus dauert etwa 16 Stunden. In Stuttgart hat Dan Ettinger die abgespeckte Orchesterversion von Friedemann Dreßler dirigiert – mit durchschlagendem Erfolg.

Stuttgart - Es ist Ende Juli. Hochsommer. Im Bayreuther Festspielhaus legen sich die Männer ihre Sakkos auf die Knie, Bundeskanzlerinnen haben Schweißflecken unter den Ärmeln, und wer ungefähr in Reihe 27 knapp 16 Stunden ausharrt, um Richard Wagners Vierteiler „Der Ring des Nibelungen“ zu erleben, könnte spätestens beim etwa vierstündigen „Siegfried“ vor lauter Hitze zu fantasieren beginnen. Und träumen: von Schneelandschaften, von Atemwolken in Winterluft, von kaltem Bier mit schaumiger Blume.

Musikern des Bayreuther Festspielorchesters geht es nicht besser. Sie schwitzen, aber weil niemand sie unter dem Orchesterdeckel sehen kann, tragen sie statt Frack und Krawatte T-Shirt und kurze Hosen. Lang ist der „Ring“ indes auch für sie, und so ist es nicht ganz unwahrscheinlich, dass Friedmann Dreßler, Cellist im Festspielorchester, 2009 ebenfalls Hitzefantasien heimsuchten: dass er von einer Wagner-Oper zu träumen begann, die richtig kurz ist, die auf Sänger und Bühne verzichtet und alles Schöne und Wichtige allein dem Orchester überantwortet. Dass Dreßler Lorin Maazels berühmt gewordene CD mit der Aufnahme von dessen eigener Orchesterbearbeitung des „Rings ohne Worte“ kannte, ist wahrscheinlich, spielt aber schon deshalb keine entscheidende Rolle, weil Maazel das Solocello und die Cellogruppe nirgends so schön singen lässt wie der arrangierende Bayreuther Cellist.

Die Hits werden reichlich ausgekostet

Siegmunds „Winterträume“ konnte man im Beethovensaal jetzt von den Cellisten der Stuttgarter Philharmoniker hören, was durchaus auch etwas schmachtend-Heldentenorales hatte. Dan Ettinger, der schon als Generalmusikdirektor am Nationaltheater Mannheim viel Aufsehen mit den von ihm dirigierten „Ring“-Inszenierungen Achim Freyers erregt hatte, leitete ein Stück, das seiner Neigung zur interpretatorischen Extroversion ideal entgegenkommt: Da knallt das Blech, da darf das Schlagwerk richtig laut sein, da bauen sich große, wirkungsvolle, hoch pathetische Crescendi auf, und das Orchester, dessen gut einstudiertes Spiel nur gelegentlich durch kleinere Koordinationsprobleme bei den Streichern und durch leichte intonatorische Wackler bei den Bläsern getrübt wird, genießt es sichtlich, dass es hier einmal so richtig aus sich herausgehen darf.

Dabei bietet Dreßlers „Ring“-Reduktion nicht mehr als einen orchestralen Schnelldurchlauf. Szenen wie den Ehezwist in der zweiten „Rheingold“-Szene, den langen Frage-Dialog von Wotan und Siegfried im „Siegfried“ oder wesentliche Teile von Brünnhildes nicht enden wollendem Abschied in der „Götterdämmerung“ vermisst man eher nicht, aber mancher Schnitt zwischen musikalischen Formteilen ist hart, und die Zusammenstellung schöner und wirkungsvoller Stellen, die hier kein Zuhörer mehr mit zwischenzeitlichem Warten und Leiden erkaufen muss, hat etwas Plakatives und Selbstgenügsames.

Stünden die vier Teile von Wagners Werk für die vier Jahreszeiten, so wäre „Der Ring in 100 Minuten“ ewiger Sommer: schön, eine Wohlfühlzeit, aber auch ein bisschen langweilig. Etwas von einem Wagner-Comic hat das zusammengestrichene Arrangement auch. Und die Balance stimmt nicht immer: „Ring“-Hits wie Feuerzauber, Waldweben, Walkürenritt und Wotans Abschied werden weidlich ausgekostet, anderes wird nur gestreift. Die Länge von Siegfrieds Tod entspricht etwa derjenigen des kompletten „Rheingold“-Teils. Die Tatsache, dass Friedmann Dreßler die Götter nur nach Nibelheim hinab-, nicht jedoch von dort wieder hinauffahren lässt, ist allerdings wirklich bedenkenswert. Nähme man diese Verkürzung ernst, dann wäre der „Ring“ nämlich schon nach einer Stunde zu Ende. Diesen Traum darf man mitnehmen aus diesem lange bejubelten Konzert: als Stoff für heimliche Bayreuther Sommernachtsträume.