Die Hochspringerin Ariane Friedrich sorgt abseits des Stadions für Aufregung. Sie hat die obszöne E-Mail Foto: dapd

Sexuelle Belästigungen und Mobbing im Internet sind allgegenwärtig – Wie sich Opfer wehren können.

Stuttgart - Der mittelalterliche Pranger ist längst abgeschafft. An dem Schandpfahl wurde der Bestrafte gefesselt und öffentlich vorgeführt. Wer einmal diese Bloßstellung erdulden musste, konnte oft kein normales Leben in der Gemeinde mehr führen. Er wurde zum gesellschaftlich Ausgestoßenen. Im schlimmsten Fall könnte es Thorsten D. aus dem hessischen Städtchen A. ähnlich ergehen. Allerdings ist das Vereinsmitglied zeitgemäß an einen virtuellen Pranger gestellt worden.

Angeblich soll Thorsten D. einer Frau eine obszöne Mail mit Foto von seinen Genitalien geschickt haben. „Willst du mal einen schönen Sch. . . sehen. Gerade geduscht und frisch rasiert“, lautet der Inhalt des Schreibens. Die Frau, die am 16. April auf ihrer Facebook-Seite seinen Namen und Wohnort mit dem anzüglichem Foto veröffentlicht hat, heißt Ariane Friedrich, Deutschlands Hochsprung-Ass und Drittplatzierte bei der WM 2009 in Berlin. Die 28-jährige Spitzenathletin – im Zivilberuf Polizeikommissarin – ist groß, gut aussehend und prominent. Nach eigener Aussage wurde sie bereits mehrfach „beleidigt, sexuell belästigt, und einen Stalker hatte ich auch schon“.

Der Fall Friedrich steht beispielhaft für den Umgang mit Cyber-Mobbing

Genervt von den Web-Attacken, hat sich Friedrich an ihre Facebook-Freunde und den Absender der Schmuddel-Mail gewandt. „NEIN, HERR D., ich möchte weder Ihr Geschlechtsteil noch die Geschlechtsteile anderer Fans sehen. Anzeige folgt.“ Sie sei nicht mehr bereit, sich „doppelt zum Opfer zu machen und stets zu schweigen“, begründet Friedrich das Online-Outing.

Das Facebook-Posting hat eine heftige öffentliche Diskussion darüber entfacht, inwieweit Selbstverteidigung und Selbstjustiz im Netz berechtigt sind. Der Fall Friedrich steht beispielhaft für den Umgang mit Cyber-Mobbing und Online-Stalkern. Immer mehr Menschen werden im World Wide Web Opfer von Diffamierungen, Belästigungen und Nötigungen. Es sind nicht nur Schüler, die ihren Zoff online austragen. In sozialen Netzwerken, auf You Tube oder per SMS wird gemobbt, beleidigt, gedroht, genervt.

Die Schwelle zum Cyber-Mobbing sei sehr viel niedriger als beim herkömmlichen Mobbing, weil die Täter meinten, sie könnten anonym bleiben, sagt die Stuttgarter Medienwissenschaftlerin Petra Grimm. Im Fall von Thorsten D. war das dagegen nicht der Fall. Der vermeintliche Mail-Schreiber outete sich und machte sich damit öffentlich angreifbar.

Stalking oder Cyber-Mobbing?

Kommissarin Friedrich hat für ihre beiden Facebook-Postings Bewunderung und Kritik geerntet. Sie begründete ihr Verhalten in einer zweiten Mitteilung am 22. April damit, dass es Zeit sei zu handeln. „Es ist Zeit, mich zu wehren. Und das tue ich. Nicht mehr und nicht weniger.“ Das Herausnehmen aus der Anonymität ist ihres Erachtens „ein Mittel, um zu verdeutlichen, dass ich bereit bin, aktiv zu werden“.

Bei dem Vorfall handelt es sich indes nicht um Stalking, sondern um eine Web- und Cyber-Attacke. Sobald sich ein virtueller Angriff wiederholt und mindestens vier bis sechs Wochen dauert, spricht man von Stalking, wie Rita Steffes-enn, stellvertretende Leiterin des Darmstädter Instituts Psychologie und Bedrohungsmanagement, gegenüber dem „Stern“ erklärt. Laut einer Studie der Universität Münster und der Techniker- Krankenkasse (2011) sind mehr als 36 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen schon einmal Opfer von Cyber-Mobbern geworden. Wer wie Friedrich solche E-Mails erhalte, sei ein Cyber-Opfer, sagt Steffes-enn. Sie fügt hinzu: „Es gibt keine Patentlösungen für solche Konflikte.“

Andere warnen dagegen vor „Lynchjustiz“ und „Denunziantentum“

Die zahlreichen kontroversen Reaktionen auf Friedrichs Pranger-Aktion zeugen von der Dringlichkeit des Problems. Mehrere Tausend Internet-User haben einen „Gefällt mir“-Button unter die Nachricht auf ihrer Facebook-Seite geklickt, Hunderte Kommentare sind dort aufgelistet. „Super reagiert, Frau Friedrich“, schreibt einer. Der Blogg „Mädchenmannschaft“ sieht die Sportlerin als Kämpferin für die Emanzipation und gegen sexuelle Belästigung.

Andere warnen dagegen vor „Lynchjustiz“ und „Denunziantentum“. „Der Pranger wurde abgeschafft, weil er die Menschenwürde verletzte, und das ist auch gut so.“ Ein weiterer bezweifelt, dass Thorsten D. der echte Übeltäter ist. „Wer sagt Ihnen oder den Mitlesenden, dass der Name und der Wohnort zu dem wahren Täter gehören?“ Ein anderer gibt zu bedenken, dass ein Unbekannter „E-Mail-Adressen von Unbekannten als Antwortadresse missbrauchen“ könnte.

Natürlich melden sich auch Juristen zu Wort. Der Berliner Rechtsanwalt Niko Härting sieht in Friedrichs Posting eine Tatsachenbehauptung, die durch die Meinungsfreiheit gedeckt sei. Sollte diese falsch sein, könnte Thorsten D. die Athletin auf Unterlassung und Widerruf verklagen. Der Jurist Florian Jäckel von der Universität Marburg widerspricht: Das Internet sei kein privater Richtplatz. Friedrich habe eine „in dieser Form rechtlich wie gesellschaftlich nicht zu tolerierende Schwelle“ überschritten.

„An-den-Pranger-Stellen ist unrechtmäßig“

Der Düsseldorfer Strafrechtler Udo Vetter wirft der Athletin vor, in der Ausbildung nichts gelernt zu haben. Wie sonst könne eine Polizistin so unüberlegt handeln. Wenn der Beschuldigte zum Anwalt gehe, könne das für sie „sehr, sehr teuer“ werden. Und selbst wenn sie den „Richtigen“ treffe, sei das „An-den-Pranger-Stellen unrechtmäßig“, schreibt Vetter in seinem „Law Blog“.

Das Internet ist kein rechtsfreier Raum. Wie gefährlich falsche Anschuldigungen sein können, beweist der Fall eines 17-jährigen Berufsschülers, der auf Facebook kurzerhand zum Mörder der elfjährigen Lena deklariert wurde. Irgendjemand hatte im Internet seinen Namen und seine Adresse publik gemacht. Ein anderer rief dann dazu auf, das Emder Polizeirevier zu stürmen und den Beschuldigten zu lynchen, was ein paar Dutzend Leute tatsächlich vorhatten. Der junge Mann hatte mit dem Mord jedoch nicht das Geringste zu tun.

Was wäre, wenn Ariane Friedrich einen Unschuldigen an den Pranger gestellt hat?

Das könnte auch bei Thorsten D. der Fall sein. Ob der kräftige, mittelalte Mann aus A., der mutmaßlich auf der Homepage des DLRG-Ortsvereins auf einem Gruppenfoto zu sehen ist, wirklich die Schmier-Mail verfasst hat, ist völlig unbewiesen. Der öffentlich Bloßgestellte hat gegenüber Medien versichert, dass sein Facebook-Account mehrfach gehackt worden sei. Gut möglich also, dass sich ein Dritter unter falschen Namen bei Facebook angemeldet hat, um den echten Thorsten D. zu verunglimpfen. Und was ist mit all jenen, die Thorsten D. heißen und unbescholtene Bürger und Mail-Schreiber sind? Was wäre, wenn die wütende Ariane Friedrich einen Unschuldigen an den Pranger gestellt hat? Der Ruf des Bürgers aus dem Städtchen A. dürfte unter den Anschuldigungen und Beleidigungen, die im Netz über ihn kursieren, schwer leiden.

Der virtuelle Pranger ist demnach weder juristisch noch sozial ein akzeptabler Weg, um mit Cyber-Mobbing umzugehen. Wer im Netz gestalkt, gemobbt oder gedisst (jemanden schlechtmachen) wird, sollte sich an eine Beratungsstelle oder einen Anwalt wenden und nicht das Recht in die eigene Hand nehmen und Rufschädigung betreiben. Seit 2007 gibt es im Strafgesetzbuch zudem den separaten Straftatbestand der Nachstellung (Paragraf 238 StGB), der mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe geahndet wird. Nach Angaben des Stalking-Experten und Kasseler Anwalts Volkmar von Pechstaedt geht es hierbei vor allem um Belästigung, Verfolgung und Überwachung.

Selbst wenn Thorsten D. gemobbt haben sollte, gilt für ihn die Unschuldsvermutung und das Persönlichkeitsrecht. Der Inhalt einer Mail ist privat und darf vom Empfänger nur mit Zustimmung des Verfassers veröffentlicht werden. Friedrichs Posting ist laut Vetter eine „klare Überschreitung rechtlicher Schranken“, „ein Akt unzulässiger Selbstjustiz“. Thorsten D. könnte die Athletin wegen Verleumdung verklagen und Unterlassungs-, Schadenersatz- und/oder Schmerzensgeldansprüche geltend machen. Eine juristische Reinwaschung wäre für ihn aber nur ein schwacher Trost. „Der Name ist im Internet gesetzt“, sagt Steffes-enn. „Es bleibt immer was an der Person hängen.“