Seit Beginn des Corona-Ausbruchs im Februar steckten sich – Stand 15. November – nachweislich mehr als 257 000 Menschen in der Schweiz an. Foto: dpa/Ennio Leanza

Die Schweiz hat mit die höchsten Corona-Infektionszahlen in Europa. Test-Kapazitäten werden knapp, die Intensivstationen füllen sich, die Zahl der Todesfälle steigt rasant. Was sind die Ursachen?

Bern - Aus dem Pralinengeschäft weht süßer Duft in die Bahnhofspassage. Vor dem Laden wartet ein halbes Dutzend Männer und Frauen, tief unter der Berner Innenstadt. Zwei der Schokoladenliebhaber tragen keine Maske. „Die Leute lassen sich durch Corona nicht die Lust auf unsere Leckereien verderben“, sagt die Verkäuferin und packt Pralinen ab. Auch vor einer Fast-Food-Kette herrscht Andrang. Daneben, in einem italienischen Café, flitzen Kellner zwischen gut besetzten Tischen hin und her. An diesem kalten Tag im frühen November 2020 tummeln sich die Menschen auch oberhalb der Passage: Die Berner Altstadt ist voll, rund um den Käfigturm, in den pittoresken Gassen und in etlichen Geschäften und Bistros kommen sich Passanten und Gäste nahe. Gefährlich nahe.

Eigentlich müssten alle diese Menschen in Bern nach den neuesten Anti-Corona-Bestimmungen der Schweizer Regierung einen Mund- und Nasenschutz überziehen. Doch viele Münder und Nasen sind frei. Selbst in der Schweizer Bundesstadt hält sich nicht jeder an die landesweit geltende Maskenpflicht für Läden, Gastronomiebetriebe und „belebte Fußgängerbereiche“. Nötig wäre das schon. Denn die Eidgenossenschaft hat sich binnen weniger Wochen zu einem internationalen Brennpunkt der Corona-Epidemie entwickelt. „Es ist fünf vor Zwölf“, rief Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga bereits Mitte Oktober ihren Landsleuten zu. Kurz darauf schrieb die Redaktion von Tamedia über die Fallzahlen in der Schweiz: „Das Tempo ist fast Weltspitze.“

Test-Kapazitäten werden knapp, die Intensivstationen füllen sich

In der ersten Woche des Novembers meldete das Bundesamt für Gesundheit mehrmals täglich mehr als 10 000 bestätigte Covid-19-Neuinfektionen. Für ein Land mit 8,6 Millionen Einwohnern markiert das einen alarmierenden Wert. Zum Vergleich: In Deutschland leben rund zehnmal mehr Menschen als in Helvetien. Doch kommt die Bundesrepublik nur auf Werte, die, grob gerechnet, etwa zweimal bis dreimal so hoch ausfallen als die Schweizer Zahlen. Auch im Corona-Vergleich mit anderen EU-Ländern schneidet die Schweiz schlecht ab. Und weiter: Seit Beginn des Corona-Ausbruchs dort im Februar steckten sich – Stand 15. November – nachweislich mehr als 257 000 Menschen in der Schweiz an. Davon entfielen allein auf die Tage ab dem 29. Oktober 97 000 Fälle.

Ebenso wanken andere Abschnitte der helvetischen Corona-Front: Test-Kapazitäten werden knapp, die Intensivstationen füllen sich, die Zahl der Todesfälle betrug zuletzt schockierende 107 innerhalb eines Tages. Zwar sanken in der vergangenen Woche die erfassten Neuinfektionen wieder in den vierstelligen Bereich. Doch Gesundheitsminister Alain Berset muss gestehen: „Die Lage bleibt ernst.“

Es ist derselbe Berset, der vor gut einem halben Jahr, als die erste Covid-19-Welle abebbte, den Schweizern versicherte: „Wir können Corona.“ Im Juni registrierte die Regierung nur noch vereinzelte Ansteckungen. Das Kabinett hob die scharfen Restriktionen des ersten Lockdowns schrittweise auf. Und die Schweizer fassten wieder Mut, die Wirtschaft wieder Tritt. Doch nun rollt die zweite Welle über das Alpenland. Und die Menschen fragen sich: Wie kann die reiche Schweiz mit einem international herausragenden Gesundheitssystem so scheitern?

Bei einem Jodelfest im Kanton Schwyz zirkulierte das Virus

Die Antworten reichen vom Politikversagen über den berüchtigten Kantönligeist bis zu den sinkenden Temperaturen. Und: Zwischen Bodensee und Genfersee grassierte lange eine nahezu ansteckende Sorglosigkeit. Die vielen Partys und Feste, draußen und drinnen, sowie feuchtfröhliche Nächte in Clubs, Bars und Discos beschleunigten die Corona-Ausbreitung.

Bei einem Jodelfest im Kanton Schwyz zirkulierte das Virus, viele Besucher infizierten sich. Bei einer Hochzeit mit 200 Gästen in der Appenzeller Gemeinde Schwellbrunn feierten Gäste, die Covid-19-Symptome aufwiesen. „Das macht mich traurig, entsetzt und wütend“, sagte Schwellbrunns Gemeindepräsident Ueli Frischknecht. Auch die Behutsamen Schwestern des Klosters Cazis in Graubünden waren vor dem Virus nicht gefeit. Anfang November meldete die Priorin von Cazis, dass mehr als ein Dutzend der Dominikanerinnen erkrankt seien.

Als weiterer natürlicher Faktor kommen sinkende Temperaturen ins Spiel: Der Epidemiologe Matthias Egger bestätigt dieser Zeitung: „Mit dem kalten Wetter, bei dem sich die Leute wieder vor allem in Innenräumen aufhalten, haben wir eine exponentielle Ausbreitung ähnlich wie Anfang März.“ Vor allem aber zeigen Helvetiens Politiker sich zögerlich. Viele EU-Staaten reagierten viel drastischer als die Schweiz. Der Epidemiologe Christian Althaus beklagt „das politische Totalversagen der Schweiz“. Keine Verantwortlichkeiten seien zu sehen, schrieb Althaus, der in der nationalen Schweizer Covid-19 Science Task Force sitzt.

Ebenso läuft auf Bundesebene einiges schief

Das kleinteilige föderale System der Schweiz behindert zusätzlich ein erfolgreiches Krisenmanagement: Im Juni gab der Bundesrat die „Hauptverantwortung“ für den Kampf gegen Covid-19 zurück an die 26 Kantone. Seither ordnet die Regierung nur noch national geltende Mindestvorgaben an. Jeder Kanton ist befugt, darüber hinauszugehen. Jedoch kann von einer abgestimmten Strategie der stolzen Gliedstaaten nicht die Rede sein. So sind im Kanton Genf die Friseur-Salons geschlossen. Im benachbarten Kanton Waadt dürfen die Friseure weiter ihre Kunden bedienen. Die Folge: Die Bewohner von Genf fahren für einen Haarschnitt in die Waadt. Und Genfer Coiffeure helfen in der Waadt aus.

Ebenso läuft auf Bundesebene einiges schief. Beispiel Maskenpflicht: Während des gesamten ersten Lockdowns wollte der Bundesrat von einem obligatorischen Tragen des Mund- und Nasenschutzes nichts wissen. Erst Anfang Juli führte die Regierung die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr ein. Es dauerte mehr als zwei Monate bis das Kabinett die Maskenverordnung verschärfte und sie auch für Läden und Fußgängerzonen anordnete.

Oder auch Großveranstaltungen: Der Bundesrat verbot Ende Februar 2020 Events mit mehr als 1000 Personen. Im August, die Infektionen gingen langsam wieder nach oben, warnte der Chef der Covid-19-Task-Force, Martin Ackermann: „Bewilligungen von Großveranstaltungen liegen in dieser heiklen Situation nicht drin.“ Anfang September, als Befürchtungen über eine zweite Welle die Schweiz erfassten, entschied die Regierung: „Das Verbot für Großveranstaltungen mit über 1000 Personen wird unter strengen Auflagen per 1. Oktober 2020 aufgehoben.“ Fußball- und Eishockeyvereine mit Profiteams hatten dafür getrommelt. Wie stark die Treffen die Corona-Krise eskalieren ließen, ist unklar. Im Oktober jedenfalls breitete sich das Corona-Virus rasant aus.

Berset nennt diesen Zickzackkurs einen „Mittelweg“

Am 28. Oktober ruderte der Bundesrat wieder zurück. Er untersagte in der gesamten Schweiz die Großevents mit mehr als 1000 Menschen. Jetzt gilt eine Obergrenze von 50 Personen für Veranstaltungen. Gesundheitsminister Berset nennt diesen Zickzackkurs einen „Mittelweg“. Und er gibt freimütig zu: „Wir haben keine Garantie, dass dieser Weg funktioniert.“

Auch die vielen Scharmützel zwischen dem Bundesrat und den Kantonen bremsen einen erfolgreichen Kampf gegen Corona. So ermahnt Gesundheitsminister Berset die Gliedstaaten, nichtnotwendige Operationen und Behandlungen zu verschieben. Dadurch will er Intensivbetten für Covid-19-Patienten freihalten. „Es gibt Kantone, die noch immer Vollprogramm an Wahleingriffen fahren“, ärgert sich Berset. Tatsächlich werden die Intensivbetten immer knapper. Beim Personal wird es ebenso eng. „Die Realität wird uns zeigen, dass vermutlich nicht die Ausstattung fehlen wird, sondern vielmehr das Pflegepersonal, das am Bett dieser Patienten stehen muss“, erläutert Stefan Hofer, Sprecher der Schweizer Armee. Angesichts des Notstandes musste die Armee im Gesundheitswesen einspringen.