Onkologen raten Familien mit kleinen Kindern, bei denen ein Elternteil an Krebs erkrankt ist, zu einem Selbstschutz mit Augenmaß. Foto: stock.adobe.com/Myroslava

Menschen mit einer Krebserkrankung sind verunsichert: Sie sehen die Lockerungen der Kontaktbeschränkung mit Sorge, weil für sie das Risiko einer lebensgefährlichen Infektion steigt. Eine Familie aus Baden-Württemberg schildert ihre Nöte.

Stuttgart/Heidelberg wa - Susanne gibt sich keinen Illusionen hin: „Wenn wir das Virus in die Familie einschleppen und mein Mann sich infiziert, kann es lebensgefährlich für ihn werden.“ Vor zwei Jahren ist der Familienvater an einer seltenen Form von Blutkrebs erkrankt. Für seine Therapien pendelt er alle paar Wochen in die knapp hundert Kilometer entfernte Uniklinik Tübingen. Zuhause trifft seine Frau (die in der Realität nicht Susanne heißt) alle Vorkehrungen, damit sie und ihr gemeinsamer Sohn kein Infektionsrisiko darstellen.

Sollen Kinder von Familien, in denen ein Elternteil erkrankt ist, in den Kindergarten?

Sie hat als Krankenschwester lange genug auf Krebsstationen von Kliniken gearbeitet, um zu wissen, worauf es dabei ankommt – auf strikte Hygieneregeln und in Zeiten der akuten Behandlungsphasen auch auf Besuchsverzicht: „Das sind wir aus Nicht-Corona-Zeiten gewohnt.“ Doch durch Covid-19 hat sich die Situation für die Familie verschärft: „Wir haben seit den Beschränkungen im März kaum das Haus verlassen.“

Für die Eltern sei das schon schwer. Doch noch mehr leidet der Sohn: Fünf Jahre ist er alt, und er begreift, dass sein Vater schwer krank ist. Aber er ist zu jung, um zu verstehen, was es bedeutet, einem unsichtbaren Erreger möglichst aus dem Weg zu gehen. „Ihn trifft die Isolation besonders hart“, erzählt die Mutter. Zwar werden nach und nach die Kontaktbeschränkungen aufgehoben. Doch Susanne betrachtet dies eher mit Sorge: „Soll ich ihn in den Kindergarten gehen lassen und das Risiko in Kauf nehmen, dass er dort mit dem Virus in Kontakt kommt und diesen in unsere Familie trägt?“

Ärzte wissen nur wenig über das Infektionsrisiko

Es ist eine Frage, die nicht nur dieser Familie aus dem Osten Baden-Württembergs Kopfzerbrechen bereitet: Seit der Coronakrise häufen sich die Anfragen bei Medizinern, wie stark Krebspatienten durch das neuartige Coronavirus gefährdet sind und welche Schutzmaßnahmen sie ergreifen sollen. Doch die können nur begrenzt mit Erfahrungen dienen: „Wir haben nur sehr wenige Informationen aus den USA und China, die besagen, wie krebserkrankte Menschen eine Sars-CoV-2-Infektion überstehen“, sagt Walter Erich Aulitzky, Chefarzt der Abteilung für Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin am Robert-Bosch-Krankenhaus Stuttgart. „Dabei scheint klar, dass das Risiko, zu erkranken etwas erhöht ist – auch das Risiko schwer zu erkranken.“

Allerdings sind bei diesen Patienten das Alter und weitere Begleiterkrankungen wesentliche Faktoren, die das Risiko bestimmen. „Insgesamt muss man aber auch bei jüngeren Krebspatienten von einem etwas überdurchschnittlichen Risiko ausgehen.“ Deshalb rät der Onkologe Krebskranken und ihren Angehörigen dazu, Infektionsrisiken so weit wie möglich zu vermeiden.

Die Furcht ist groß, dass die Zahlen von Krebskranken nach oben schnellen

Doch dieses Abwägen fällt schwer. Nicht nur bei Betroffenen, sondern auch in medizinischen Einrichtungen ist die Unsicherheit nach wie vor groß, wie man mit Krebspatienten in Zeiten von Corona umzugehen hat. So vermeldet der Krebsinformationsdienst, der im Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg angesiedelt ist, seit Beginn der Coronakrise einen stark erhöhten Beratungsbedarf. Es ist nicht nur die Ansteckungsgefahr, über die die Patienten aufgeklärt werden wollen: Über mehrere Wochen wurden Therapien verkürzt oder verschoben sowie die Nachsorge ausgesetzt, und auch jetzt läuft noch nicht wieder alles wie gewohnt – bei vielen Betroffenen ist unklar, wie und wann es weitergehen soll. Befürchtet wird, dass dem Gesundheitssystem eine erhöhte Anzahl zu spät erkannter Krebserkrankungen bevorsteht: Denn Abklärungs- und Früherkennungsuntersuchungen finden nicht wie gewohnt statt. Die Sorge der Patienten vor einer Ansteckung beim Arztbesuch verschärfen das Problem.

Hilft es, wenn sich Familie und krebskranker Angehöriger räumlich trennen?

Für Susannes Ehemann war die Coronakrise kein Grund, seine Krebstherapie am Uniklinikum Tübingen abzusetzen. „Aber zeitweilig haben wir uns schon überlegt, ob mein Mann erst einmal getrennt von uns zu seinen Eltern zieht“, sagt Susanne. Auch beim Krebsinformationsdienst wird oft angefragt, ob eine häusliche Trennung die sicherste Möglichkeit wäre, das Infektionsrisiko für Krebspatienten zu senken. „Vor allem Familien, bei denen ein Elternteil erkrankt ist, sind besorgt – denn die schulpflichtigen Kinder müssen bald wieder alle am Unterricht teilnehmen“, erzählt eine Mitarbeiterin. „Aber welche Familie kann sich schon eine räumliche Trennung auf Dauer leisten?“ Hinzu käme die psychische Belastung, die eine solche Trennung mit sich bringen würde. „Man weiß ja nicht, wie lange wir mit dem Coronavirus und seiner Ansteckungsgefahr leben müssen.“

Ob Kinder eine bedeutsame Infektionsquelle sind, ist wissenschaftlich umstritten

Erfahrene Onkologen wie Ernst Walter Aulitzky raten gerade Familien mit kleinen Kindern zu einem Selbstschutz mit Augenmaß: Zwar ist es nach wie vor umstritten, ob Kinder eine besonders bedeutsame Infektionsquelle darstellen. So scheinen Kinder Studien zufolge seltener krank zu werden. Aber sie scheiden im Falle einer Infektion gleich viele Viren aus. „Daher würde ich empfehlen, die ersten zwei bis vier Wochen nach Öffnung der Kindertagesstätten noch vorsichtig zu sein“, sagt Aulitzky. „Wenn man sieht, dass durch diese Öffnungen keine neuen Wellen entstehen, kann man zuversichtlicher sein, dass sich das Kind auch bei Kontakt mit anderen nicht infizieren wird und keine Gefahr für den Papa darstellt.“

Susanne ist inzwischen selbst tätig geworden: Zusammen mit einer befreundeten Familie, der sie in puncto Gesundheitsschutz vertraut, will sie sich nun bis zum Sommer die Betreuung der Kinder teilen. So hat ihr Sohn auch ohne Kindergarten erst einmal einen Spielkameraden – und sie hat mal Zeit, durchzuatmen.