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Corinna Harfouch über das Stück "Der Schmerz", das sie im Stuttgarter Kammertheater inszeniert.

Die Schauspielerin und Regisseurin Corinna Harfouch inszeniert am Sonntag im Stuttgarter Kammertheater "Der Schmerz" von Marguerite Duras. Ein politischer Text, der die NS-Zeit und die letzten Kriegstage in Frankreich schildert.

Frau Harfouch, wie kamen Sie zu Duras?

Als mitteleuropäischer Mensch, der liest, stößt man doch unweigerlich auf sie. Ich kenne die französische Sicht, die Zeit des Faschismus zu betrachten, nicht so intim. Aber natürlich kenne ich viele jüdische Autoren, ich kenne sehr viele Berichte von Menschen, die in Konzentrationslagern waren, ich kenne die sowjetrussische und die deutsche Geschichte. Ich habe mein Leben lang einen Großteil meiner Zeit damit verbracht, mich immer wieder damit zu befassen. Es ist mir aufgefallen, dass "Der Schmerz" noch einmal einen ganz speziellen Aspekt birgt in meinem Verstehenwollen dieser ganzen Zeit.

Duras' Text zeigt aus verschiedenen Perspektiven, wie eine Frau den Krieg und die Zeit danach erlebt.

Das hat mich sehr interessiert, diese Ambivalenz, diese Gegensätze in den Texten. Marguerite Duras begibt sich ja selbst in die Position eines Täters. Und sie geht dabei so weit, zu behaupten: Ich bin sowohl Opfer als auch Täter. Und das bedeutet: Das sind wir alle. Und das wiederum bedeutet eine so große Unsicherheit insgesamt, uns selbst und jedem anderen gegenüber. Man wird unglaublich wach in der Betrachtung der Dinge und in der Betrachtung der eigenen Person.

Wie gehen Sie damit auf der Bühne um? Erzählen Sie chronologisch?

Nein. Es gibt keine Chronologie im Text, und es gibt keine endgültigen Antworten. Das einzig Wichtige ist, dass man die Fragen offenhält. Man möchte ja als Mensch Antworten, und wenn man sie nicht bekommt, muss man immer wieder fragen. Diese Bewegung, die dadurch entsteht, ist die einzige Möglichkeit, mit dieser Thematik umzugehen.

Eine Frau wartet 1945 auf ihren Mann, der von den Nazis deportiert wurde. Als er wiedergekehrt ist, sagt sie, sie werde ihn verlassen. Hat Sie dieser Moment interessiert?

Man glaubt sich in einer ganz bestimmten Konvention zu bewegen. Eine Frau wartet auf einen Mann. Was daran nicht konventionell ist, ist dieser unglaubliche Versuch von ihr, mit einer Genauigkeit in der Sprache einen inneren Zustand zu beschreiben, die Dinge festzuhalten, die damit zu tun haben, den Versuch zu machen, tief in sein Selbst zu schauen und auch schauen zu lassen. Diese Genauigkeit ist auch eine Art, Widerstand zu leisten gegen das Vergessen, gegen Verallgemeinerung, gegen das, was zum Faschismus führen kann. Das scheint auch mir die absolut einzige Möglichkeit zu sein, dem Unbegreiflichen überhaupt etwas entgegenzusetzen, diese Millimetergenauigkeit in der Sprache.

Können Sie das beschreiben?

Sie scheint beim Erzählen wirklich fast auf der Stelle zu stehen. Dieses Empfinden, dass es einfach endlos ist und unglaublich, wird in der Form auch miterzählt. Dabei scheint es mir umso größer, dass das Warten der Frau und ihre Verzweiflung eben nichts mit der Aussicht zu tun haben, dass da zwei Menschen vielleicht ein Leben miteinander zu verbringen vorhatten.

Als nächstes mit Christoph Schlingensief

Die Frau schreibt, dass ihr der Zusammenhang und der Sinn der Wörter abhanden kommt.

Es wird das Entsetzen behandelt, was es bedeutet, dass die Sprache - und alle Sicherheiten, die darüber entstehen, dass es eine Kultur gibt, dass man sich verständigen kann - vollkommen außer Kraft gesetzt ist. Besonders für Menschen, die sich damit ihr Leben lang beschäftigen. Denn dann ist das alles unter Umständen - nichts? Das ist auch eine Frage, die mich immer wieder beschäftigt: Bedeutet das denn nichts? Im Ernstfall? Scheinbar ist das so, und das ist schrecklich. Der mit Kultur vollgepumpte Mensch ist nicht dagegen gewappnet, ein Faschist zu sein.

Wie äußert sich diese Skepsis in Ihrer Inszenierung?

Ich habe, als ich in diese Arbeit einstieg, eine ganz bestimmte Vorstellung gehabt, was ich unbedingt brauche, um die Komplexität und die Widersprüche, diesen Zwiespalt in einem Menschen zu erzählen. Es arbeiten zwei Tänzer mit, ein Musiker, eine bildende Künstlerin, die den Raum gemacht hat - und alle sind mit auf der Bühne. Wenn man eine Geschichte linear erzählt, erzeugt man die Illusion von Gewissheiten. Es gibt aber keine Gewissheiten, weder über andere noch über sich selbst.

Sondern?

Die Dinge anders als mit Sprache zu erzählen, das war ein Wunsch. Dass ich Tänzer beschäftigt habe, hat damit zu tun. Das war eine Überzeugung, die ich sofort hatte, als ich dachte, ich würde diesen Text gerne mal auf einer deutschen Bühne sehen. Und als ich hier die Gelegenheit bekommen habe, das zu machen, war mir relativ schnell klar, dass ich das nicht alleine machen möchte.

Theater ist Gemeinschaftsarbeit. Sie haben mit großen Regisseuren gearbeitet. Wie prägt und beeinflusst Sie das?

Die stärkste Prägung der letzten Jahre ist natürlich die Arbeit mit Jürgen Gosch. Es fällt mir sehr schwer, den Namen hier ins Spiel zu bringen. Ich muss unglaublich viel an ihn denken. Es lässt sich ja nichts kopieren. Niemand kann, was das betrifft, von jemand anderem lernen. Doch über eine Sache denke ich sehr viel nach. Dass er mehr und mehr versucht hat, komplett voraussetzungslos zu einer Probe zu kommen.

Was meinen Sie damit?

Als wüsste er nichts, wirklich nichts. Alles entscheidet sich auf der Probe. Ich wusste gar nicht, dass genau das das Schwerste ist. Es entsteht etwas noch mal ganz anderes als man sich vorher gedacht hat. Aber da ist noch ein ganz weiter Weg, denn man muss Mut für so was haben. Er hatte diesen Mut, Freiheit zu gewähren.

Sie haben diese Freiheit erlebt?

Ja, und dabei hat er einem ja immer wieder die ganzen Lieblingsstellen weggenommen und gesagt, ach, das war aber doch blöd. Worüber man sich am Tag vorher gefreut und gesagt hatte, Gott, was für eine Erkenntnis! Er hat dafür gesorgt, dass man spielenderweise Erkenntnisse sammelt. Und dann hat er aber gesagt, das bedeutet nicht, dass das zur Premiere so kommt. Spielen musst du was anderes. Und dann hat man immerzu was anderes gespielt, und so wurde dieses Geheimnis umspielt. Es wurde niemals komplett enträtselt, da gab es nur diese ganz vielen Möglichkeiten, wie man das sehen könnte. Darin ist er ein Meister.

Wie geht es weiter?

Ich mache als nächste Arbeit eine Arbeit mit Schlingensief.

Warum?

Weil er einfach eine vollkommen radikal andere Sprache hat. Er hat so ein Glühen, so ein Leuchten, so eine Unbedingtheit. Und das ist ganz ungewöhnlich.