In dem Spiel „Assassin’s Creed Origins“ lebt das alte Ägypten wieder auf. Foto: Hersteller

Computerspiele werden immer realistischer – aber auch lehrreicher? Drei Experten haben sich „Assassin’s Creed“, „Monster Hunter World“ und „Frostpunk“ angesehen.

Stuttgart - Allein in einer unwirtlichen Wildnis, umgeben von drachenartigen Wesen, die schon mal die Größe eines Hochhauses annehmen können. Nur wer sich gut gerüstet auf den Weg macht und die unzähligen Pflanzen- und Tierarten kennt, hat hier eine Überlebenschance. Für viele Bewohner der modernen Welt ist dieses Szenario offenbar besonders attraktiv. Das Videospiel „Monster Hunter World“ verkaufte sich in den ersten zwei Wochen mehr als sechs Millionen Mal. Und es ist sicher kein Zufall, dass die „Monster Hunter“-Serie aus einem hochtechnisierten Land wie Japan stammt, wo sie seit vielen Jahren ein Megaseller ist.

„Das Spiel beschwört eine Welt vor mehreren Zehntausend Jahren herauf, eine Welt, die derjenigen ähnelt, aus der wir kommen“, sagt der Survival-Experte Joe Vogel. „Eine archaische Natur, gegen die man sich behaupten muss, diese unmittelbare Konfrontation mit dem, was das Leben im Kern ausmacht. Das ist ein grundlegendes Bedürfnis, das uns heute in unseren Großstädten fehlt.“

Spektakel fesselt die Fans

Ist das Spektakel, das unzählige Fans für Hunderte von Stunden an den Bildschirm fesselt, also eine Form von Realitätsflucht? Oder ist das Spiel authentischer als es auf den ersten Blick scheint? Zumindest haben die Entwickler viel recherchiert, um ihre Schöpfung möglichst lebensnah zu gestalten. „Nilpferdgroße Beuteltiere oder Riesenwarane hat es bei der Erstbesiedlung Australiens durchaus gegeben. Lähmungsfrösche gibt es in Afrika, sie verstecken sich im Sumpf und sind äußerst aggressiv“, sagt Joe Vogel.

Eine Vorbereitung für das Überleben in der freien Natur sei das allerdings kaum. „Ein Großteil der Zeit wird vom Sammeln von Materialien und dem Herstellen von Gebrauchsgütern, Waffen und Kleidung bestimmt. Das erzeugt eine Befriedigung, wie man sie sonst vielleicht beim Einkaufen verspürt.“ Bei dem Spiel „Monster Hunter“ geht es aber auch darum, online mit anderen zu kooperieren. „Wenn man etwas aus dem Spiel lernen kann, dann, dass man manche Aufgaben nur in der Gemeinschaft bewältigen kann“, so Vogel.

Eine frei begehbare 3D-Welt

Viel Recherchearbeit steckt auch in „Assassin’s Creed Origins“, das den Spieler in das Ägypten des Ptolemäischen Zeitalters führt. Das Zeitalter Kleopatras wurde mit Unterstützung mehrerer Fachleute nach wissenschaftlichen Erkenntnissen rekonstruiert. Die frei begehbare 3D-Welt ist voll von Gebäuden, Gegenständen, historischen Figuren und einer Flora und Fauna, wie sie wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge in jener Zeit tatsächlich anzutreffen war. All das dient eigentlich als Kulisse für ein actionbetontes Kampfspiel. In einem neuen Entdeckermodus, den Besitzer kostenlos herunterladen können, lässt sich das antike Ägypten nun aber auch ganz gewaltfrei entdecken. Statt Kämpfen gibt es interaktive Touren und Infos zu den historischen Hintergründen, so dass man „Assassin’s Creed“ auch im Unterricht einsetzen könnte.

Für Angela Schwarz von der Uni Siegen sind Computerspiele Teil der „Geschichtskultur“. Ein Begriff, unter den auch die Inszenierung historischer Stätten, populärwissenschaftliche Dokumentationen, Romane und Filme fallen. So gesehen hat „Assassin’s Creed“ nicht viel mehr mit Wissenschaft zu tun als das Musical „Les Misérables“ oder eine Führung durch die Akropolis mit einem Guide in altgriechischen Gewändern. „Geschichte ist nicht linear, also immer auch anders denkbar und Gegenstand von Interpretation. Filme und Computerspiele müssen aber eine Geschichte aus einer bestimmten Perspektive erzählen. Beides lässt sich oft nur schwer vereinbaren“, sagt die Wissenschaftlerin, die sich seit rund 20 Jahren mit Games beschäftigt.

Perfekte Illusion einer Zeitreise

„Das Spiel lässt sich als die perfekte Illusion einer Zeitreise verstehen“, urteilt die Historikerin Schwarz. Damit sei es durchaus geeignet, gewisse Fakten zu vermitteln und, noch wichtiger, ein Interesse an Geschichte zu wecken. „Was fehlt, ist hier und da etwas Sand im Getriebe, das Infragestellen dessen, was in der jetzigen Fassung noch zu sehr als unumstößliche Wahrheit erscheint.“ Statt Zweifel an verbreiteten Vorstellungen zu säen, gelte hier wie auch in Filmen zumeist das „Primat des Visuellen, die Inszenierung“. Dabei seien Computerspiele gerade durch ihre Interaktivität in der Lage, neue Zugänge zum zugrundeliegenden Material zu eröffnen.

Keinen realen Hintergrund hat dagegen das Survival-Game „Frostpunk“, das etwa Anfang des 19. Jahrhundert angesiedelt ist. Der Spieler findet sich in einem Krater wieder, der in eine Eislandschaft eingebettet ist. Hier muss er versuchen, eine Gruppe ihm anvertrauter Menschen zu retten. Das ungewöhnliche Konzept: Man hat keinen direkten Zugriff auf die Charaktere, sondern muss diese mit Hilfe geschickter strategischer und politischer Entscheidungen bei der Stange halten. „Wir wollen die Frage aufwerfen, wie weit der Spieler gehen würde, damit seine Leute überleben“, sagt Patryk Grzeszczuk vom polnischen Entwickler 11 Bit Studios. Ob sich der Miniaturstaat, der nach und nach in dem Krater entsteht, nach demokratischen Prinzipien entwickelt oder zu einer Diktatur wird, bleibt dem Spieler überlassen.

„In Filmen oder Geschichtsbüchern wird immer unterstellt, dass ein konkretes Ereignis zu einer logischen Abfolge von weiteren Ereignissen führt“, erläutert Grzeszczuk. Dieser Eindruck ergebe sich aber nur aufgrund nachträglicher Erklärungen. Hinterher sei man eben immer schlauer. „Geschichte ist nie alternativlos, sondern das Ergebnis einer endlosen Kette von Entscheidungen und Zufällen.“ Und was soll das besagen? „Die Botschaft ist, dass jeder sein Schicksal mehr oder weniger selbst in der Hand hat. Was wir uns vor allem wünschen, ist, dass der Spieler sich selbst besser kennenlernt“, erklärt Grzeszczuk. Diesem Anspruch dürften sich auch die Macher von „Monster Hunter“ und „Assassin’s Creed“ anschließen.