Unbequeme Wahrheiten: Stuttgarts Alt-OB Wolfgang Schuster sprach im Rathaus zum Thema „alternde Gesellschaft“ Foto: Leif Piechowski

Comeback im Rathaus: Nach 23 Monaten tritt Alt-OB Wolfgang Schuster trat am Montag wieder an alter Wirkungsstätte auf. Diesmal als Experte zum Thema „Alternde Gesellschaft – Herausforderung für Kommunen“.

Stuttgart - Wolfgang Schuster macht sprachlos. Keiner im Publikum der Fachtagung des Sozialamtes hat nach dem Vortrag des langjährigen Stuttgarter Oberbürgermeisters noch Fragen. Schuster darf dies auch als Kompliment werten. Sein Vortrag im großen Sitzungssaal überzeugt fachlich und ist in seiner Argumentation schlüssig.

Aber das große Schweigen hat noch einen weiteren Grund: Schuster legt den Finger in die Wunde. Nach seinem Vortrag ist jedem klar: Die Auswirkungen des demografischen Wandels in dieser (Stadt-)Gesellschaft werden schmerzlich sein. Mehr noch: Keiner kann die anstehenden Aufgaben alleine bewältigen. Es ist ein Gemeinschaftswerk. Schuster formuliert es als einen Appell an die Solidarität aller in dieser Stadt. Und als Leitbild einer verantwortungsvollen Kommune. Konkret fordert er das „Miteinander der Generationen in einem Vertrag vor Ort“.

In weniger als 20 Prozent der Stuttgarter Haushalte noch Unter-18-Jährige

Aber der Reihe nach. Auch wenn die Fakten dieser alternden Gesellschaft sattsam bekannt sind, Schuster schickt sie seiner Lösungsstrategien voran. Auch um die Aufmerksamkeit für das demografische Ungleichgewicht zu schärfen. Tatsache ist, dass in Stuttgart in weniger als 20 Prozent aller Haushalte noch Kinder und Jugendliche unter 18 Jahre leben. „Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir eine Einwanderungsstadt sind“, sagt Schuster, der in seiner 15jährigen Amtszeit als OB die Integration von ausländischen Mitbürgern immer wieder zur Chefsache gemacht hat. „Wir brauchen jeden dieser jungen Leute. Und wir werden sie noch mit Lasso einfangen, wenn die Fachkräfte ausgehen.“

Diese Entwicklung zeichnet sich in etwa 15 Jahren ab. Dann geht die „Generation Baby-Boomer“ in Rente. Für den Arbeitsmarkt bedeutet das: 6,5 Millionen weniger Erwerbstätige im Alter zwischen 20 und 64 Jahren. Gleichzeitig einen Zuwachs von 5,5 Millionen über 65-Jährige. Schuster skizziert ein Schreckensszenario: „Wenn Fachkräfte fehlen, gehen Firmen dahin, wo Menschen sind.“ Gleichzeitig fragt er: Wer bezahlt dann die künftigen Rentner und deren Soziallasten? Dann wenn im Jahr 2030 auf 100 Erwerbstätige über 50 Pensionäre kommen. Schuster orakelt: der Staat oder die Kommune werden dann an Grenzen kommen. Das Bonmot von Ex-Arbeitsminister Norbert Blüm („Die Rente ist sicher“) könnte spätestens dann eine Worthülse sein.

Es droht ein Pflege-Kollaps

Die Finanzen sind das eine, die der drohende Pflege-Kollaps das andere. „Die Situation wird sich verschärfen“, sagt Schuster. Schon heute sind 2,3 Millionen Menschen auf Pflege angewiesen. 2030 dürften es 3,4 Millionen sein. Und das bei einer Tendenz, die eine Abnahme der Pflege durch Familienangehörige und ein erhöhte Pflegebedürftigkeit zeigt. Schuster beschwört daher die Abkehr von den aktuellen Idealen dieser Gesellschaft: Individualisierung und Selbstverwirklichung. „Das Rathaus alleine wird all diese Probleme nicht lösen. Wir brauchen uns gegenseitig. Wir müssen uns helfen, sonst kriegen wir es in Zukunft nicht hin.“ Mit anderen Worten: „Wir müssen die Familie stärken und weiter daran arbeiten, dass Stuttgart eine kinderfreundliche Stadt ist.“ In diesem Zuge gibt Wolfgang Schuster jedem Hausaufgaben mit auf den Weg:

Die Stadt müsse für altersgerechtes Wohnen („Ein Riesen-Nachholbedarf“) sorgen, damit so lange wie möglich ein selbstbestimmtes Leben möglich sei. Auch die Nahversorgung in den Stadtteilen, ein Baustein der kommunalen Daseinsvorsorge, macht dem Ex-OB „Sorgen.“

Weit provozierender ist jedoch sein Aufruf zum Verzicht. „Nur wenn die ältere Generation dazu bereit ist, die jüngere Generation finanziell zu entlasten und auf eigne finanzielle Vorteile verzichtet“, so Schuster, „werden die Jungen nicht überfordert.“ Nur dann seien die Jungen auch bereit, diesen Generationen-Pakt einzugehen.

Es ist die letzte bittere Pille, die Schuster an diesem Fachtags dem Publikum zumutet. Sie macht alle sprachlos.

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