Ein Programm wie ein Kindertraum: An Kronleuchtern kreiseln die Engel über dem Publikum.Foto:Lucas Saporiti Foto:  

Ein toter oder ein träumender Clown? Der Cirque du Soleil präsentiert mit der Show „Corteo“ fantastische Artistik und melancholisch-schöne Kuriositäten. Im Dezember kommt das schöne Spektakel nach Stuttgart.

Boston - Wo ist der Mann, der da im Bett die Augen aufschlägt? Über ihm kreiseln in barocken Kostümen Frauen an Kronleuchtern, drum herum flattern Engel mit großen weißen Flügeln, quirlen Jongleure und wuselt allerhand mehr durch dieses Wimmelbild der Zirkuskunst. Das Bett als Fundament des Schlafes kann Eingang zu unseren Träumen oder, wenn wir zum letzten Mal einschlafen, Ausgang aus dem Leben sein. Ist’s also ein Traum oder das Jenseits, in dem der Clown Mauro erwacht? Oder ist der Tod letztlich ohnehin nicht bloß ein ewig währender Traum?

Sollte das Himmelreich tatsächlich der Gestalt der Show „Corteo“ entsprechen, so verflöge jedwede Angst vor dem eigenen Hinscheiden im Nu. Vom 18. bis zum 22. Dezember gastieren die Artistinnen und Artisten vom Cirque du Soleil in der Porsche-Arena. In die stade Zeit passt die Geschichte vom sterbenden Clown aus der Feder von Autor und Regisseur Daniele Finzi Pasca ganz gut, sinniert man zum Ablauf des Kalenders hin doch gern auch über das eigene Dasein und dessen Vergänglichkeit – oder angesichts steigender Tannenbaumpreise zumindest über die Grenzen des eigenen Bankkontos. Über ein baldiges Ende braucht sich der 1984 von ein paar Straßenkünstlern in Montréal gegründete Cirque du Soleil keinen Kopf zu machen: Heute beschäftigt das Unternehmen 4000 Mitarbeiter, davon 1400 Artisten aus mehr als 50 Ländern. Tiere kommen dabei nicht zum Einsatz.

Aus dem Leben eines Clowns

„Corteo“ ist Italienisch, man übersetzt es wohl am besten mit „Umzug“. Der „Corteo di carnevale“ ist der Karnevals- respektive Faschingsumzug, der „Corteo funebre“ der Trauerzug. Protagonist Mauro indes zieht um ins Ungewisse, nachdem der Mietvertrag seines Körpers auf Erden ausgelaufen ist. Doch „Corteo“ ist keine Heulveranstaltung. Meist geht es heiter oder melancholisch-schön zu, streifen doch die besten Momente aus dem Leben des Clowns an ihm vorüber.

Das persönliche Best-of beginnt in der Kindheit, mit einem echten Kindertraum: Zwei als Betten getarnte Trampoline finden sich auf der Bühne, Artistinnen und Artisten springen von einem aufs andere, schlagen Salti und balancieren auf dem Gestell. Das Beste: Weit und breit findet sich kein Erwachsener, der den Spaß unterbindet. Im Gegenteil: Die Erwachsenen klatschen begeistert.

Die Arena-Tour bringt die Zuschauer dazu, eine neue Perspektive einzunehmen: Die Show findet in der Mitte der Halle statt, weshalb die Gäste von beiden Seiten auf die Bühne blicken, sprich mal von hinten und mal von vorne, und somit mitunter gleichsam die Künstlersicht einnehmen.

Weltmeister im Pfeifen

Überdies kommt das Publikum bei der vielleicht schönsten Nummer im Repertoire auch selbst zum Einsatz. An einer Handvoll Heliumballons befestigt, fliegt die kleinwüchsige Künstlerin Valentyna Pahlevanyan knapp unterm Hallendach durch den Raum. Sinkt sie in Richtung der Publikumsköpfe, ruft sie „Push! Push!“ und lässt sich von den Gästen wieder in die Lüfte schubsen.

Ohnehin ist „Corteo“ reich an Kuriositäten. Sicher, jeder Zirkus ist im Grunde ein Kuriosum, aber hier geht vieles über die üblichen Einlagen hinaus. Etwa der niederländische Kunstpfeifer Geert Chatrou. Dreimal wurde er bereits Weltmeister. Ja, im Pfeifen. Während andere „Hänschen klein“ vor sich hin pusten, kommen ihm Kompositionen von Mozart über die Lippen. „Hier finden viele unterschiedliche besondere Menschen zusammen, die jeder für sich unglaublich gut in einem Gebiet sind. Darunter natürlich viele sportliche, fitte Akrobaten – und Typen aus den Niederlanden wie ich“, beschreibt Chatrou das 51-köpfige Künstlerkollektiv.

Warum Chatrous Kollegen so fit sind, erklärt sich bei der Backstage-Führung in Boston: Laufband, Hantelbank, Fahrrad-Ergometer – auf all diesen Geräten schwitzen sie schon mittags, um die Muskeln in Form zu halten. Wer seine Kolleginnen und Kollegen durch die Gegend wirft, darf nicht schwächeln.

Lästig wird’s nie

Das anstrengende Tourleben hat aber auch schöne Seiten, erzählt der finnische Jongleur Johan Juslin, der mit drei Tennisbällen im Hinterhof anfing, später zur Zirkusschule ging und heute mehrere Diaboli gleichzeitig durch die Luft schleudert. Er zählt zu den besten seines Fachs. Bis zu fünf Stunden am Tag trainiert er Jonglage, aber lästig wird’s ihm nie. Es sei eher wie eine Sucht. Auch die Reiserei sagt ihm zu: „Man kommt fast jede Woche in eine neue Stadt. Gefällt sie einem, kann man immer mal wieder zurückkehren. Und wenn nicht, dann weiß man: Alles klar, hier muss ich nie mehr hin.“

So ist „Corteo“ also auf der Bühne ein luftiger Traum, in dem alles möglich zu sein scheint, hinter den Kulissen jedoch harte Arbeit. Nicht nur für die Akteure selbst. Exemplarisch etwa die Arbeit der Kostümbildner: Allein für die betörenden Engel gibt es 40 verschiedene Kostüme, insgesamt kommen 150 Schuhe und um die 2000 Teile zum Einsatz. Die müssen nicht nur instandgehalten, sondern bisweilen auch während der Darbietungen geflickt werden. Luftartisten beispielsweise verlieren bei ihrem Tun manchmal Knöpfe, fangen sie sogar noch in der Luft und präsentieren dann hinter der Bühne stolz, was ihnen gelungen ist – doch die Kostümbildner haben kaum Zeit für Beifall, müssen die Kleider mit dem Notfallnähzeug doch rasch wieder in Schuss gebracht werden.

Der Luftkuss als Geheimzeichen

Auf dem Quivive müssen auch die Musiker sein: Die befinden sich bei „Corteo“ nicht auf, sondern vor der Bühne. An allen vier Ecken sitzen sie und beobachten jeden Schritt, jeden Griff auf der Bühne, um die Musik minutiös anpassen zu können. Wenn eine Hula-Hoop-Tänzerin, ein Equilibrist oder ein Duo an den Strapaten eine Sekunde länger braucht als üblich, dann reagieren Keyboard, Saxofon, Schlagzeug und Konsorten darauf. So sind viele kleine Dinge, etwa ein Luftkuss gen Publikum, nicht nur nette Gesten, sondern auch geheime Zeichen an Kollegen und Regie.

Im Hinblick auf den Tod mag einen jedoch eine Sache bei diesem detailverliebten Einblick ins jenseitige Treiben dennoch beunruhigen: Die eingangs erwähnten Engel - sie können absolut gar nichts. Ob Jonglierkeule oder Balance auf der Leiter – was sie auch anpacken, es endet im amüsanten Chaos. Drum staunen die Cheruben auch großäugig darüber, wie gut Mauros Menschenfreunde ihr Handwerk beherrschen. Daraus lässt sich folgern: Eine solche Show wird man nach dem Ableben wohl nicht mehr zu Gesicht bekommen. „Corteo“ gibt’s nicht im Paradies, sondern nur hier auf Erden.