Gonzales in Stuttgart Foto: Willikonsky/Lichtgut

Der kanadische Pianist und Possenreißer Chilly Gonzales war zu Gast im Beethovensaal der Liederhalle.

Stuttgart - Die große Stille breitet sich aus, im Beethovensaal der Liederhalle. 2000 Menschen füllen diesen Saal; das Konzert des Pianisten, Entertainers Chilly Gonzales ist seit Monaten schon ausverkauft. Nun schreitet Gonzales, eigentlich Jason Charles Beck, geboren 1972 in Montreal, an seinen Flügel. Natürlich trägt er einen Bademantel, setzt sich, schweigt, hüllt sich ins Dunkel. Minuten vergehen, ehe er die erste Taste anrührt, leise Klänge in den Raum stellt.

Gonzales ist bekannt als großer Possenreißer, als Exzentriker, Musikclown. Er hat mit vielen Musikern gearbeitet, mit Peaches, Feist, Helge Schneider, Jarvis Cocker. Irgendwo auf dem schmalen Grat zwischen Kitsch und Kunst begeistert er ein großes Publikum für eine Musik, die diesem Publikum eigentlich fernliegt. Mit mürrisch abwesendem Gesichtsausdruck, die Haare ordentlich verstrubelt, ein kleines bisschen unrasiert, lauscht er seinen Noten nach. Und der Beethovensaal lauscht mit ihm, ergeben. Gonzales schwelgt. Er schlägt energisch die Tasten, steigert sein Spiel dramatisch, häuft Arpeggios, schwärmt umher. Setzt er einen Moment aus, lehnt sich zurück, pausiert, donnert ihm der Applaus entgegen.

Das Konzert wird zur Komödie

Dann kommt jener Augenblick, in dem sich über dem Kopf von Chilly Gonzales gleichsam eine Gedankenblase bildet, unsichtbar, doch hörbar. „I think this works“, denkt er. „Maybe playing the piano is enough. Maybe they haven’t noticed that they haven’t heard my voice yet.“ Vielleicht, denkt Chilly Gonzales, kommt er ja durch damit. Vielleicht wird es an diesem Abend ja genügen, den Flügel zu spielen. Vielleicht haben all die Menschen im Beethovensaal gar nicht bemerkt, dass er nur spielt – und schweigt.

Dies ist just der Augenblick, in dem sein Konzert sich ganz als Komödie offenbart. 2018 veröffentliche Chilly Gonzales das letzte Album einer Trilogie, die er „Solo Piano“ nannte. In seinen Pianostücken jongliert er gekonnt und gleichmütig mit allen Versatzstücken der Klaviermusik, reiht todernst und innig Klischees aus Klassik, Filmmusik, Jazz und Pop aneinander. Gonzales weiß, was Beethoven und Fahrstuhlmusik gemein haben. Und er weiß, wie man ein Amalgam aus beidem bravourös verpackt, verkauft: Auf die Attitüde kommt es an. Chilly Gonzales ist der Künstler, der erleuchtet schwitzt und Songs von Britney Spears in seine Tasten hämmert.

Gonzales spielt auch Melodica

Begleitet wird er später von der Cellistin Stella La Page und dem Schlagzeuger Joe Flory. Mit ihnen schichtet er tatsächlich Kurt Cobains „Smells like Teen Spirit“ auf den Spears-Song „Hit me Baby one more Time“ – und es klingt fabelhaft. Überhaupt: fabelhaft, dieses Wort der deutschen Sprache, schätzt Chilly Gonzales sehr. Das Wort „sehr“ schätzt er ebenfalls und singt es. Zur Stimme gekommen, moderiert er sich nun selbst mit französischem Akzent und englischen Vokabeln, wird zum Rapper, animiert das Publikum: „I thought Stuttgart was about Rap!“, beklagt er sich, als seine Zuhörer ihm dabei nicht wild genug werden.

In Stuttgart hat Chilly Gonzales den Musiker Malakoff Kowalski kennengelernt. Kowalski schreibt Bühnenmusiken für das Staatstheater, eine verwandte Seele. Gonzales überlässt ihm seinen Flügel, und Kowalski versinkt dort ganz wie er zunächst in tiefer, ruhiger Schwermut – dann gesellt sich Chilly Gonzales wieder zu ihm, spielt Rücken an Rücken mit ihm die Melodica. Später wird Malakoff Kowalski den Jazzstandard „Fly me to the Moon“ singen, ein Stück, zu dem sich beide spontan entschlossen und das sich nicht recht ins Programm zu fügen scheint – alleine schon, weil Jazz die kleinste Zutat bisher war im musikalischen Eintopf des Chilly Gonzales.

Der Meister, der all dies zusammenbrachte, erscheint vor seiner Zugabe kurz weit oben auf der Bühne, im Spotlight, mit messianisch ausgebreiteten Armen. Er beendet sein Konzert mit instrumentalem Bombastrock und donnernden Clustern: In seinen lautesten und leisesten Momenten schwingt virtuos trocken nichts als Ironie mit.