DTB-Präsident Rainer Brechtken: Strukturen und Profil für die Foto: dpa

Es gibt einfachere Übungen als den Klimmzug vor fünf Millionen Turnern. Er hat den Kraftakt als DTB-Chef unfallfrei gemeistert. Jetzt geht Rainer Brechtken (71) vom Gerät – in den sicheren Stand

Stuttgart - Seine Reden gleichen einer Turnübung aus einem Guss. Etwa der am Pauschenpferd. Pausen stören in solchen Situationen bekanntlich den Gesamteindruck. „Er ist eben ein exzellenter Politiker“, sagt Wolfgang Willam und lacht, „da braucht man manchmal zwei, drei Sätze mehr.“ Zeit allerdings, die der Sportdirektor des Deutschen Turner-Bunds (DTB) in den vergangenen 16 Jahren gern investierte. Denn der ehrenamtliche „Maulturner“ (Brechtken über Brechtken) ließ den hauptamtlichen Vorturnern stets den Raum für Pflicht und Kür. Dem Deutschen Turner-Bund (DTB) hat es nicht geschadet.

Rhetoriker und Netzwerker

Wenn Rainer Brechtken an diesem Samstag vom Turngerät steigt, dann ist es selbst nach Meinung kritischer Geister ein Abgang ohne Wackler. „Er hat das Profil des Verbandes erheblich geschärft“, lobt Wolfgang Willam. Wenn sich der deutsche Leistungssport in den nächsten Monaten reformiert, dann haben die Bewegungskünstler im Frankfurter Wald jedenfalls wenig zu fürchten. Der DTB gilt mit seinen fünf Millionen Mitgliedern als professionell aufgestellter Verband. Auch deshalb, weil der Chef-Rhetoriker und Netzwerker aus Schorndorf jeden Anlass nützte, um die Wiege allen sportlichen Treibens ins rechte Licht zu rücken. Da kam ihm die Kanzlerin gerade recht.

Angela Merkel lockte er einst mit dem Versprechen zum Deutschen Turnfest nach Frankfurt, „dass bei uns niemand ausgepfiffen wird“. Brechtken hielt Wort. Die Kanzlerin dankte es ihm mit einer Videobotschaft zur Stuttgarter Bewerbung für die Turn-Weltmeisterschaft 2019. Die Delegierten des Weltturnverbands (Fig) waren entzückt. Stuttgart ist in drei Jahren Gastgeber für die besten Turner der Welt.

„Das brauchen wir auch“, sagt Rainer Brechtken und spricht vom Anreiz für die Talente vor heimischem Publikum zu glänzen. Denn auch die Leibesübungen an Reck, Boden oder Barren spüren den demografischen Wandel. Anders ausgedrückt: Die wenigsten Turnhallen müssen wegen Überfüllung schließen.

Das Drei-Säulen-Modell

Aber Probleme waren für den Sozialdemokraten immer nur Hindernisse auf dem Weg zum Ziel. Und die meisten hat der gebürtige Ludwigsburger unbeschadet überwunden. Dem etwas in die Jahre gekommenen DTB verpasste er nach seinem Dienstantritt eine neue Struktur. Der Diplom-Volkswirt initiierte Leitbild-Diskussionen und installierte ein Drei-Säulen-Modell (Sportarten-Entwicklung, Allgemeines Turnen, Olympischer Spitzensport) mit weitgehend eigenständigen Bereichsvorständen. Asse wie Marcel Nguyen, Fabian Hambüchen oder Elisabeth Seitz werden seither von einem hauptamtlichen Lenkungsstab gesteuert. Wolfgang Willam sagt: „Er hat sich nie als Cheftrainer aufgespielt.“ Und er hat sich nicht nur Freunde gemacht – etwa bei der Straffung der Leistungssport-Strukturen. „Rainer Brechtken sagt, was er denkt“, bestätigt Willam.

Und er ist „ein Streiter für die Sache“, wie ihm Robert Baur, langjähriger Geschäftsführer des Schwäbischen Turnerbunds (STB), gern attestiert. Den ehe Brechtken in Frankfurt mit anpackte, absolvierte er erste Klimmzüge beim STB. Mit einigem Erfolg. Baur und der damalige STB-Chef (1994 bis 2012) stellten das Stuttgarter Kunstturnforum auf die Beine, sie waren Triebfedern beim Bau des Cannstatter Haus des Sports, sie riefen den Stuttgarter Sportkongress ins Leben und holten die Turnweltmeisterschaften 2007 und 2019 in die Landeshauptstadt.

Bittere Momente

Natürlich gab es auch bittere Momente: Rainer Brechtken denkt an den schweren Sturz von Ronny Ziesmer während der Olympia-Vorbereitung auf die Sommerspiele 2004 in Athen. Querschnittlähmung! „Das war für uns alle ein Schock“, erinnert sich der scheidende DTB-Chef. Dann hagelte es Vorwürfe, als die Verhältnisse am Gymnastik-Stützpunkt in Schmiden an die Öffentlichkeit kamen (Körperverletzung, Beleidigung). Trainerinnen und Funktionäre mussten ausgetauscht, Sicherungs-Systeme (Ombudsfrau) eingezogen werden. Auch die Diskussionen um die finanziellen Engpässe beim Neubau der Frankfurter DTB-Zentrale waren nicht vergnügungssteuerpflichtig. Der Bauträger war in Insolvenz gegangen.

Vorbei immerhin, aber noch nicht vergessen. Der Regensburger Jurist und Präsident des bayerischen Turnverbands, Alfons Hölzl, übernimmt zwar ein Haus, das keine Reichtümer bereit hält, aber auch keine Kosten-Fallen. Und Rainer Brechtken übergibt mit dem Versprechen, auch weiterhin der großen Familie der Turner zu dienen. „Aber nur, falls ich gebraucht werde.“