Cem Özdemir will die Grünen in die nächste Bundesregierung führen – dafür umwirbt er die bürgerlichen Milieus. Foto: dpa

Sitzen bald die Grünen oder die FDP bei der Kanzlerin am Kabinettstisch? Auf diese Frage will Cem Özdemir den Schlusspurt seiner Partei vor dem Wahlsonntag zuspitzen. Das Rennen will er gewinnen.

Berlin - Ausgerechnet. Das Trio aus der Karibik besingt die Schönheiten von Kingston Town und entführt die 120 Bürger, die wegen des Nieselregens dicht gedrängt unter den Sonnenschirmen des türkischen Restaurants Aspendos sitzen, schon mal nach Jamaika. „Everything’s gonna be alright“, prognostizieren die drei schwarzen Musiker auch noch. In Bezug aufs Wetter wird sich das wenig später als Irrtum erweisen. Aber die Niedersachsen sind hart im Nehmen. Gerade haben Sarah und Ilias sich gegenüber im Rathaus das Jawort gegeben. Die Hochzeitsgesellschaft lässt sich von Wind und Herbstkühle den Sektempfang vor der Tür nicht vermiesen; und auch als das Nieseln sich pünktlich mit Cem Özdemirs Ankunft in der Kleinstadt Hemmingen bei Hannover zum Landregen verdichtet, harren die Zuhörer aus.

Es ist früher Nachmittag, und es geht um Integration und Flüchtlinge. 340 gibt es in Hemmingen. Mittlerweile haben die allermeisten Zuwanderer das Flüchtlingsheim um die Ecke bereits verlassen können und Wohnungen gefunden, erzählt Dorit Miehe von den Grünen im Gemeinderat. In der Stadt ist neuerdings eine große Koalition am Ruder. Bis zur Kommunalwahl im vorigen Jahr haben die Grünen mitregiert, jetzt sind sie mit vier Köpfen zur kleinsten Oppositionsfraktion geschrumpft. „Daran muss man sich gewöhnen“, sagt Frau Miehe nüchtern. Bei der Bundestagswahl wollen die Grünen genau die umgekehrte Entwicklung hinbekommen. Bis dahin sind es noch knapp zwei Wochen. Bernd Riexinger und Sahra Wagenknecht von der Linkspartei lächeln vom nächsten Baumstamm herüber, SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz ist per Plakat auch dabei. Aber das ist es dann auch schon: In Cem Özdemirs Wahlkampfauftritten kommen die Mitbewerber aus dem linken Lager nicht vor.

Die Grünen, die Umfragen und das Hoffen auf die Wende

Vor drei Wochen sind Özdemir und seine Co-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt am Brandenburger Tor in Berlin zur Wahlkampftour gestartet – notgedrungen mit Hybridfahrzeugen von BMW, weil ein für Wahlkampfzwecke geeignetes reines Elektromobil deutscher Bauart auf dem Markt nicht zu kriegen war. Wenn sie die Chance bekommen, wollen sie diesen Missstand durch eine neue Autopolitik in der Bundesregierung bis zum Jahr 2021 ändern. So viel zu den Fernzielen. Aber heuer geht es erst einmal darum, bis zur aktuellen Wahl 27 000 Kilometer hinter sich zu bringen. „Das ist einmal um die halbe Welt“, sagt Özdemir. Nur dass der Weg kreuz und quer durch die Republik und wieder zurück führt. Gut die Hälfte haben die grünen Spitzenkandidaten mittlerweile hinter sich. Folgt man den Meinungsumfragen sind sie ihrem Wahlziel, zweistellig zu werden und demnächst auf jeden Fall mitzuregieren, seither kaum näher gekommen. Grüne Themen vom Atomausstieg über den Klimaschutz, die Gleichberechtigung bis hin zu fairer Entwicklungs- und Friedenspolitik mögen die Weltpolitik längst prägen. Aber das macht den Trend in diesem Wahlkampf nicht zum Freund der Ökopartei. „Noch nicht“, sagen Özdemir und Göring-Eckardt seit Wochen bei jeder Gelegenheit. Das ist seit je das Mantra aller Wahlkämpfer, die hinter ihren Erwartungen liegen.

Der Mann mit dem Ötzel-Brötzel-Namen

„Als ich 1994 in den Bundestag kam, hat mancher blöd geschaut, weil ich nicht Gustaf oder Detlef hieß, sondern so einen komischen Ötzel-Brötzel-Namen hatte“, erzählt Özdemir jetzt im niedersächsischen Hemmingen. „Das hat vielleicht auch dazu beigetragen, dass wir Menschen heute nicht mehr danach beurteilen, wo sie herkommen, sondern wo sie hinwollen.“ Vier Punkte nennt Özdemir als Voraussetzung für Integration: Man muss die Zuwanderer rasch in Arbeit bringen. Sie müssen die Amtssprache einigermaßen beherrschen. Sie müssen akzeptieren, dass die Gleichheit von Mann und Frau „bei uns in Stein gemeißelt ist“ und dass es keine Ausgrenzung geben darf: weder als Rassismus noch in Form eines islamistisch gespeisten Antisemitismus.