Die Buslinie 72 bedient die Haltestelle „Rübezahlweg“ neunmal am Tag. Foto: A. Kratz

Seit einem Jahr macht die Buslinie 72 einen Schlenker durch die Märchensiedlung in Stuttgart-Möhringen. Für viele Anwohner ist das nach wie vor ein Ärgernis.

Möhringen - Ein Jahr danach ist der Ärger noch immer nicht verraucht. „All unsere Befürchtungen haben sich erfüllt. Der Bus kommt kaum durch. Vor Kurzem hat es an der Ecke Hechinger Straße/Jelinstraße gekracht. Und es hat schon viele Fast-Unfälle mit Radfahrern gegeben“, sagt Wolfgang Bleher.

Es geht um die Schleife der Buslinie 72 durch die Märchensiedlung. Seit dem Fahrplanwechsel im Dezember 2017 fahren die gelben Wagen der SSB neunmal am Tag über den Dornröschenweg zur neuen Haltestelle an der Ecke Rübezahlweg/ Schneewittchenweg und dann über die Jelinstraße zurück auf die Hechinger Straße. Es sind drei Fahrten zwischen 7 und 8 Uhr und sechs Fahrten zwischen 16 und 18 Uhr. Als die Pläne der Stuttgarter Straßenbahnen (SSB) im Sommer 2017 bekannt wurden, gab es einen Aufschrei unter den Anwohnern. Sie kritisierten insbesondere, dass sie als die Leidtragenden in Sachen Lärm nicht in die Plane einbezogen worden waren. Und sie zweifelten daran, dass die Schleife durch die Märchensiedlung wirtschaftlich seien könne. Es gebe keinen Bedarf für eine solche Linie, so die Argumentation.

Bezirksbeirat hat Taktverdichtung befürwortet

Ausgangspunkt für die neue Linienführung war das „Bündnis für Mobilität“, das die Gemeinderatsfraktionen von CDU, Bündnis 90/Die Grünen und SPD Anfang 2017 ins Leben gerufen hatten. Ein Bestandteil des Maßnahmenpakets war die Verbesserung von Busverbindungen. Davon profitierte auch die Filderebene. Seit dem Fahrplanwechsel im Dezember fährt sowohl auf der Linie 72 in Möhringen als auch auf der Linie 82 in Vaihingen ein Verstärkerbus, sodass ein Zehn-Minuten-Takt entsteht. Allerdings verkehren diese Verstärkerbusse nur in bestimmten Abschnitten. Für die Linie 72 ist dies das Teilstück zwischen dem Bahnhof und dem Freibad. Das bedeutet, dass die Busse wenden müssen. Das tun sie mit dem Schlenker durch die Märchensiedlung.

Von Anfang an gab es aber nicht nur Kritiker. Aus der Märchensiedlung selbst meldeten sich auch viele positive Stimmen, die den Schlenker als Gewinn betrachteten. Ebenso befürwortete der Bezirksbeirat die Taktverdichtung. Roland Krause von der SSB sprach bei der Vorstellung der Pläne für die Taktverdichtung in dem Gremium von einer „angebotsorientierte Maßnahme“. Das Ziel sei es, eine zusätzliche Nachfrage zu generieren. Zudem betonte Krause, dass es zunächst nur ein Probebetrieb sei. Die SSB werde Daten und Erfahrungen sammeln und die Maßnahme dann – so wie jede andere Maßnahme auch – hinterfragen. „Eine 100-Prozent-Deckung gibt es beim ÖPNV nie. Aber wir haben als städtische Tochter ein Defizitlimit“, erklärte Krause damals.

Ein offener Brief an den Bürgermeister

Wolfgang Bleher schrieb im Juni 2017 einen offenen Brief an OB Fritz Kuhn. „Ein Schwabenstreich! Von Umweltbewusstsein geschweige Wirtschaftlichkeit keine Spur!“, war darin zu lesen. An dieser Meinung hält er fest. „Täglich fährt da ein fast leerer Bus“, so Blehers Beobachtung. Er fügt hinzu: „Diese Lösung war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Hier werden Steuergelder vorsätzlich vergeudet.“ Mit dieser Meinung ist er nicht allein. Ein anderer Anwohner kritisiert, dass die Linie durch die Märchensiedlung weder das Freibad noch die Sportplätze erschließe. Und älteren Menschen aus dem Wohngebiet bringt der Bus auch so gut wie nichts, da am Morgen die Ämter und Behörden erst um 9 Uhr öffnen, also eine Stunde, nachdem der letzte Früh-Bus gefahren ist.

Und an manchen Tagen sei neuerdings sogar ein großer Gelenkbus. „Das ist eine Unverschämtheit. Uns wurde damals versprochen, dass es ausschließlich ein einfacher Bus sein werde, der durch die Märchensiedlung fahren werde“, sagt Bleher.

Birte Schaper von der SSB-Pressestelle bestätigt, dass seit dem Fahrplanwechsel am 9. Dezember auch Gelenkbusse durch die Märchensiedlung gefahren seien. „Das war ein Versehen. Wir haben den Fehler bemerkt und werden in beheben“, sagt sie. Allerdings dauere es eine Zeit, bis Dienst-, Fahr- und Umlaufpläne neu aufeinander abgestimmt seien. „Spätestens nach Weihnachten werden aber wieder ausschließlich Solobusse durch die Märchensiedlung fahren“, verspricht Schaper.

Anwohner plädieren für einen Bürgerbus

Zum Erfolg oder Misserfolg der Buslinie 72 möchte sich die SSB aktuell nicht äußern. Nur so viel: Der Versuch sei auf zwei Jahre ausgelegt. Darum könne man derzeit noch keine Zahlen zum Fahrgastaufkommen und zur Wirtschaftlichkeit vorlegen. Erst Mitte des kommenden Jahres werde es soweit sein. „Dann werden wir auch entscheiden, ob und wie es mit der Buslinie weitergeht“, sagt die Pressesprecherin.

Von Protesten aus der Märchensiedlung habe die SSB seit der Inbetriebnahme der Verstärkerlinie nichts mehr mitbekommen, so Schaper. „Viele haben resigniert, weil wir damals nicht gehört wurden. Aber der Bus ist in unserer Siedlung noch immer ein Aufreger“, sagt dazu Bleher. Die Linie durch das Wohngebiet gehöre umgehend eingestellt und das Geld für sinnvollere Lösungen wie zum Beispiel einen Bürgerbus verwendet. „Ich bin gerne bereit, mich für das Projekt eines Stadtteilbusses zu engagieren“, sagt Bleher.