Heinrich Sening klagt gegen den Arzt seines Vaters. Foto: dpa

Der Bundesgerichtshof prüft einen Fall von weitreichender Bedeutung. Das Gericht muss erstmals die Frage klären, ob Ärzte die Behandlung bei unklarem Patientenwillen abbrechen müssen.

Karlsruhe - Heinrich Sening ist selbst Krankenpfleger. Er hat lange Patienten in einer Reha-Einrichtung für Schädel-Hirn-Verletzte betreut, jetzt arbeitet er in den USA, in North Carolina, in der Geriatrie. „Glauben Sie mir, ich kenne mich aus mit Patienten, die den Zustand haben, wie ihn mein Vater hatte“, sagt Sening. Sein Münchner Dialekt ist noch so präsent, als habe er die bayerische Landeshauptstadt nie verlassen. Dort, in München, hat das bayerische Oberlandesgericht vor etwas mehr als einem Jahr ein Urteil gesprochen, das Aufsehen verursachte.

Das Oberlandesgericht hatte den Hausarzt von Heinrich Senings Vater zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 40 000 Euro verurteilt. Juristisch gesehen, weil der Arzt seine Aufklärungspflicht verletzt haben soll. Praktisch gesagt, weil er seinen Patienten nicht sterben ließ. Es geht dabei um Selbstbestimmungsaufklärung, das ist so etwas wie die Kernaufklärung, die notwendig ist, um zu begreifen, was mit einem geschieht. Es hätte der Betreuer von Senings Vater aufgeklärt werden müssen, der Vater selbst war nicht mehr erreichbar. Er lag, bewegungs- und kommunikationsunfähig im Bett, wurde seit Jahren mit einer Sonde ernährt, die direkt in den Magen führte. Dabei handelt es sich um einen Kunststoffschlauch, durch den eine Verbindung zwischen Bauchwand und Magen hergestellt wird, durch die ein Patient künstlich ernährt werden kann. Diese Sonde hätte der Arzt ziehen sollen. Das Münchner Urteil wird seit Dienstag vom Bundesgerichtshof (BGH) überprüft.

Es geht also um die Frage, ob Ärzte Schadenersatz leisten müssen, wenn sie Patienten am Leben lassen. Bisher ist noch nie ein Arzt höchstrichterlich verurteilt worden, weil er Leben zu Unrecht verlängert hat. Dazu wird es wohl auch nun nicht kommen. In der Verhandlung zeichnet es sich ab, dass der BGH den Münchner Weg nicht mitgehen wird. Dem VI. Zivilsenat waren die Zweifel an der dortigen Argumentation deutlich anzumerken.

Als der Vater von Heinrich Sening am 19. Oktober 2011 starb, lagen fünf Jahre künstliche Ernährung hinter ihm. In den letzten anderthalb Jahren kamen zu der Unfähigkeit zu sprechen oder sich zu bewegen noch vier Lungenentzündungen und eine Gallenblasenentzündung hinzu, die Schmerzen waren so gewaltig, dass nur noch Opiate halfen. Was der Wunsch des Mannes selbst gewesen wäre, das weiß niemand. Es gab keine Vorsorgevollmacht, keine Patientenverfügung und keine Äußerung aus besseren Tagen, die einen eindeutigen Willen für diese Situation hätte erkennen lassen.

Heinrich Sening stützt sich auf Paragraf 1901b des Bürgerlichen Gesetzbuches. Das ist eine vergleichsweise neue Vorschrift, die mitten in der Leidenszeit seines Vaters geschaffen wurde. Sie wird von ihm dahingehend interpretiert, dass sich Arzt und Betreuer austauschen müssen, um den Patientenwillen zu erkunden – und dass einmal getroffene Entscheidungen ständig überprüft werden müssen. Als die Magensonde im Jahr 2006 gelegt wurde, da habe sie Sinn ergeben, sagt Sening. Spätestens seit Januar 2010 aber nicht mehr. Seit diesem Datum habe sie nur noch dazu gedient, das Leben zu verlängern. Lebensverlängernde Maßnahmen seien aber nicht angebracht gewesen, nur noch schmerzlindernde. „Die Ärzte können nicht so weitermachen wie bisher“, sagt Richard Lindner, der Anwalt des Klägers.

Ob sich der Bundesgerichtshof zu dieser Frage äußert, ist noch nicht klar, eine andere scheinen die Richter jedoch beantwortet zu haben. Um Schadenersatz zu bekommen, braucht es einen Schaden. „Ein Urteil über den Wert eines Lebens verbietet sich aber“, sagt die Senatsvorsitzende Vera von Pentz. Von Pentz zitierte aus einem Urteil, welches das Gericht 1983 gesprochen hatte. Damals hatte eine an Röteln erkrankte Mutter ein behindertes Kind geboren. Die Richter entschieden, dass das Leben an sich kein Schaden sein kann.

Der Anwalt des Arztes, Siegfried Mennemeyer, wies auf eine mögliche Folge hin, sollte das Münchner Urteil Bestand haben. Krankenkassen müssten dann womöglich prüfen, ob ein Patient nicht zu lange am Leben erhalten worden sei und so Kosten verursacht habe. Dieses Damoklesschwert gehe hoffentlich an allen vorüber, so Mennemeyer. Der Senat will seine Entscheidung in einigen Wochen verkünden.