Die Schuldebatte hat 2012 für Massenproteste gesorgt. Foto:  

In Ludwigsburg protestiert der ganze Stadtteil Neckarweihingen gegen eine Buslinie. Der Ort war schon immer als aufmüpfig bekannt – das hat historische Gründe.

Ludwigsburg - Die Empörung ist schriftlich dokumentiert: 1060 Unterschriften hat die neu gegründete Bürgerinitiative aus Neckarweihingen übergeben. Das ist bei knapp 7000 Einwohnern eine Hausnummer. Woche um Woche steigt der Ärger bei den Bewohnern des malerisch am Neckar gelegenen Stadtteils. Die Stadtverwaltung hätte eigentlich gewarnt sein müssen. Wenn der Neckarweihinger eines nicht ausstehen kann, dann ist es das Gefühl, im Rathaus nicht ernst genommen zu werden.

Es geht nüchtern betrachtet lediglich um ein paar Bushaltestellen. Und die Frage, wie die Buslinie 421 durch den Ort und die Neubaugebiete fahren soll. Die Stadt hat dazu drei Vorschläge gemacht – in dem vom Rathaus favorisierten müsste die Einbahnstraßenregelung in der Schwarzwaldstraße umgekehrt werden. Es gab eine Bürgerversammlung, in der nahezu alle Teilnehmer dagegen waren. Eigentlich sollte dort abgestimmt werden – doch das ließ man dann doch bleiben.

War alles schon vorher entschieden?

Und nun verkündet Carry Buchholz, die Geschäftsführerin des Busunternehmens LVL Jäger: „Die Linienführung ist längst vom Regierungspräsidium genehmigt. Wir können davon nicht abweichen.“ War alles schon vorher entschieden? Wurde die Abstimmung abgeblasen, weil das Ergebnis nicht gepasst hat? Die Bürgerinitiative rund um Anne Fuhrmann ist spricht von „einer Farce“.

In die Sitzung des zuständigen Gemeinderatsausschusses kommen 80 empörte Bürger, murren und klatschen Beifall. Der neue CDU-Stadtrat Armin Klotz und die Grünen-Rätin Christine Knoß ergreifen Partei für die Neckarweihinger, auch die in dem Ort wohnende SPD-Sprecherin Margit Liepins äußert wenig Verständnis für das Vorgehen der Verwaltung.

Ein Sturm der Entrüstung im Ort

Der immer auf Sachlichkeit bedachte Baubürgermeister Michael Ilk (Freie Wähler) sieht sich plötzlich mit einem Sturm der Entrüstung konfrontiert, den er nicht versteht. Er versucht zu beschwichtigen („Schauen wir uns die Lage vor Ort noch einmal an“) und weist den Vorwurf zurück, alles sei nur ein abgekartetes Spiel. Doch er dringt nicht durch, der Ärger ist monatelang hochgekocht und kann nicht einfach besänftigt werden.

Sogar der künftige Oberbürgermeister Matthias Knecht hat im OB-Wahlkampf gesagt: „In Neckarweihingen wurde zu wenig auf die Bedenken der Bürger eingegangen.“ Spricht man mit den Protestierenden, so wird klar, dass es nicht nur um Partikularinteressen geht, etwa weil bei einer umgekehrten Einbahnstraße die Einfahrten der schwäbischen Vorgärten umgebaut werden müssten.

Die Bürger fühlen sich nicht ernst genommen

„Der Kardinalfehler war die Bürgerversammlung“, sagt Roland Schmierer. Er ist als Vorsitzender des Bürgervereins so etwas wie der heimliche Ortsvorsteher, obwohl es solche Strukturen eigentlich gar nicht gibt. „Man stößt uns vor den Kopf, wie schon in der Vergangenheit auch“, sagt der 59-jährige Lehrer. Deswegen protestieren alle quer durch alle Bevölkerungsschichten gegen die Buslinie.

Es ist nicht das erste Mal, dass sich das schon zu Beginn des 20. Jahrhundert als SPD-Hochburg bekannte Neckarweihingen von der „Zentrale“ im Rathaus übergangen fühlt. So gab es im Jahr 2012 einen regelrechten Aufstand, als der Oberbürgermeister Werner Spec die Friedrich-von-Keller-Schule, einen Bau des bekannten Architekten Günther Behnisch, durch einen Neubau ersetzen wollten. Denn ihm schwebte vor, die Schule mit einem Supermarkt zu kombinieren.

Der Protest gegen eine Schule mit Supermarkt ist legendär

Schließlich wurde eine Bürgerbefragung nur in diesem Stadtteil organisiert, landesweit ein extrem seltener Vorgang. Das Ergebnis war eindeutig: 75 Prozent der Neckarweihinger wollten ihre Schule behalten, der Edeka-Einkaufsmarkt wurde in den Neckarterrassen errichtet. Legendär ist auch die Debatte um die Versetzung des Kiesranzenbrunnens vom Neckar vor das Rathaus. Die Stadtverwaltung wollte damit 2013 eine alte Zusage einlösen, vor dem ehemaligen Bürgermeisteramt einen Brunnen zu errichten.

Doch es kam einmal mehr zu einem Proteststurm, mit intoniert von Roland Schmierer. Der Brunnen blieb am Ortseingang, dafür wurde ein neuer Brunnen mit Spenden vor dem Rathaus gebaut.

Es ist ein Gefühl, das viele einstmals selbstständige Gemeinden mit einem gewissen Bürgerstolz verspüren: Wir haben nichts mehr zu sagen, werden überstimmt, in der Kernstadt versteht man unsere Anliegen nicht. Das gibt es vielerorts. In Ditzingen sind die Heimerdinger besonders selbstbewusst. In der Stadt Aalen im Ostalbkreis hat der Stadtteil Unterkochen vor einigen Jahren sogar auf Einhaltung des Eingemeindungsvertrages geklagt.

Nachwehen der Eingemeindung von 1974?

Neckarweihingen wurde 1974 mit der großen Welle der Kommunalreform eingemeindet. Eine Ortschaftsverfassung gibt es in Ludwigsburg nicht, allerdings existieren Stadtteilausschüsse. Diese haben allerdings nur eine beratende Funktion und sind nicht direkt gewählt. Im Fall des Neckarweihinger Buslinienstreites gab es sogar im Vorfeld eine Abstimmung im Stadtteilausschuss – mit sechs zu zwei Stimmen votierte der Beirat für die Buslinienvariante, die der Baubürgermeister Michael Ilk vorgeschlagen hatte.

Daher ist der aktuelle Proteststurm auch eine Geschichte von unterschiedlichen Bürgerinteressen. Manche Neckarweihinger freuen sich auch, dass der Bustakt deutlich ausgeweitet wird, teilweise auf alle fünf bis zehn Minuten.

Im Rathaus setzt man auf Kompromiss

Doch es geht nicht nur um die Position einer Bushaltestelle, sondern um Partizipation vor Ort. Das hat nun auch die Stadtverwaltung erkannt. Michael Ilk will bei einem Ortstermin Varianten diskutieren und hat angekündigt, dass weniger Parkplätze wegfallen sollen. Und eine besonders beliebte Haltestelle soll erhalten bleiben, damit gehbehinderte Senioren sie weiter erreichen können. Ein wenig Erfolg muss der Bürgerprotest schon haben.