Auf der Seite der Schwachen: Annie Ernaux Foto: imago/Cati Cladera

Die Französin nimmt an diesem Samstag den Literaturnobelpreis entgegen – ihre Rede wird mit Spannung erwartet. Die Autorin gilt als große Erklärerin der Klassengesellschaft. Doch das ist nur die eine Hälfte der Wahrheit, wie ihr Buch „Das andere Mädchen“ zeigt.

Warum interessieren wir uns für das, was einem jungen Mädchen in der französischen Provinz der 50er Jahre widerfährt, wenn es sich in der Sache nicht essenziell von dem unterscheidet, was unzählige andere so ähnlich erlebt haben: Familientrouble, Rollenkonflikte, Entfremdungserfahrungen? Die Antwort könnte lauten: Genau deshalb lesen wir die Bücher der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux, weil sich in ihren Milieubeschreibungen jene wiederfinden, deren Geschichte immer unterschlagen wurde und die gleichwohl die Gesellschaft tragen. Es wäre Grund genug. Aber stimmt das auch? Ist es wirklich das Verallgemeinerbare, das Klassenkämpferische, das Feministische, in dem das Besondere dieses Schreibens wurzelt? Oder liest man diese Texte nicht gerade deshalb so gebannt, weil sie mit nichts zu vergleichen sind, auch wenn ein nicht unerheblicher Teil gegenwärtigen Schreibens sich mit allen Mitteln darum bemüht, ihnen immer ähnlicher zu werden?