Der Gegenstand von Maxim Billers Schreiben ist immer wieder das eigene Leben. Foto: dpa

Die Familiengeschichte von Maxim Biller kreist um ein dunkles Geheimnis. In „Sechs Koffern“ begibt sich der Autor auf Recherchereise und zaubert aus einem listig angelegten Krimi den Roman eines ganzen Jahrhunderts.

Stuttgart - Man mag Maxim Biller ja für eine Nervensäge halten, die in regelmäßigen Abständen immer wieder medienwirksam hervorprescht, um die deutsche Gegenwartsliteratur stellvertretend für den Zustand des Ganzen mit kritischem Furor und aggressivem Biss zu peinigen: wenn er die gähnende Langeweile einer von Nazi-Enkeln fabrizierten erfahrungsarmen „Schlappschwanzliteratur“ geißelt oder den mit „Wohlfühlpreisen“ auf Linie gebrachten schreibenden Migranten – den Stolz des vielstimmigen deutschen Literaturbetriebs – die ungezähmte Vitalität der amerikanischen Literatur polemisch entgegenhält.

Man kann das ungerecht finden und sich an Billers krawallig inszenierten Auftritten in dem behäbigen Fernsehlesekreis des „Literarischen Quartetts“ stoßen – auch wenn diese Sendung nach seinem Ausscheiden um einiges langweiliger geworden ist. Aber anders als viele Maulhelden, die desto lauter werden, je weniger sie zu bieten haben, lässt er seinen Invektiven Taten folgen. Und wenn es um die deutsche Gegenwartsliteratur eben doch viel, viel besser bestellt ist, als der notorische Schwarzmaler wahrhaben will, dann, weil sie mit einem Roman wie „Sechs Koffer“ von Maxim Biller aufwarten kann.

Bereits in früheren Zusammenhängen hat der 1960 in Prag geborene und seit 1970 in Deutschland lebende Autor von seiner weitverzweigten osteuropäischen Familiengeschichte als „stoffspendendem Glück“ gesprochen. Immer wieder, noch bevor dies Mode wurde, hat er sein Leben ungeschützt zum Gegenstand des Schreibens gemacht. Und nicht nur das eigene, sondern das aller daran Beteiligten, weshalb sein Roman „Esra“ über die amour fou zwischen einem jüdischen Autor und einer jungen Türkin vom Bundesverfassungsgericht wegen der Verletzung von Persönlichkeitsrechten verboten wurde. Ähnliches hatte zuvor nur Klaus Mann mit seinem Gründgens-Roman „Mephisto“ geschafft.

Verräter im eigenen Lager

„Schreibst du schon wieder etwas über uns“, fragt Maxim Billers Mutter in dem neuen Roman den Sohn einmal, als er sie nach dem Liebesleben seiner Tante befragt. „Nein, Mama“, lautet die Antwort. Eine glatte Lüge, die wohl keine juristischen Folgen haben wird, denn hier schreiben eigentlich alle über sich und die anderen. Billers Mutter Rada hat vor einigen Jahren ihre Memoiren ebenso veröffentlicht, wie seine Schwester Elena Lappin ihre Sicht auf die Dinge, über die nun ihr Bruder schreibt. Das letzte Kapitel seines Romans ist ihrem Buch gewidmet.

Und natürlich sind diese „Sechs Koffer“ prall gefüllt mit dem stoffspendenden Glück der eigenen Familienbegebenheiten. Wobei sich allerdings zeigt, dass das Glück der Literatur aufs engste mit dem Unglück des Lebens verschwistert ist. Im Mittelpunkt dieser Geschichte steht eine Tragödie: 1960 wurde der Großvater, „ein freundlicher, stiller Jude aus Ruthenien“, der es geschafft hatte für seine Familie besser zu sorgen als die meisten Russen, auf dem Moskauer Flughafen verhaftet und wenig später wegen illegaler Geschäfte hingerichtet. Jemand musste ihn verleumdet haben.

In sechs Kapiteln kreist der Roman um dieses dunkle Geheimnis, das die Familie auseinandersprengt. Denn darüber, wer den gütigen Patriarchen verraten haben könnte, kursieren die unterschiedlichsten Vermutungen, die nur darin übereinkommen, dass der Verräter im eigenen Lager zu suchen sei. War es der etwas ungeschickte Onkel Dima, der bei einem Fluchtversuch aus Prag geschnappt wurde, und im Gefängnis zum Spitzel gedungen wurde? Oder dessen Bruder Lev – weshalb sonst sollte die ganze übrige Familie mit ihm radikal gebrochen haben? Steckt die elegante Filmregisseurin Natalia dahinter, die eigentlich Billers Vater liebt, aber mit seinem Bruder Dima Vorlieb nehmen musste, diesem Versager, den sie später mit seinen Gefängnisakten erpresst?

Jederzeit sprungbereiter Antisemitismus

Wie ein Kommissar sichtet Maxim Biller das Schuldgepäck, das die Beteiligten durch ihr Leben tragen. Aber was er darin findet, sind keine eindeutigen Antworten, sondern Schicksale, unglückliche Leidenschaften, Biografien, die die großen Katastrophen des Jahrhunderts aus der Spur geworfen haben.

Natalia, die sich später in Genf vor einen Lastwagen werfen wird, hat mehrere KZs überlebt. Ihr Schwager Lev wird vor einem Komplott seines Bruders von einem früheren Kameraden gewarnt, dem er einst im Kampf gegen die Deutschen das Leben gerettet hat. „Sag mal, Lev“, hatte der ihn damals gefragt, „warum kämpft ihr Juden eigentlich mit uns gegen Hitler? Wir mögen euch doch auch nicht, und wir werden euch schon bald genauso jagen wie er.“

In diesen „Sechs Koffern“ steckt das ganze Gewicht der Zeit: adoleszente Aufschneidereien, die Selbstbehauptung gegen einen von allen Seiten jederzeit sprungbereiten Antisemitismus, der Kampf um Liebe und Anerkennung, gegen die politischen und gesellschaftlichen Zwangssysteme zwischen Faschismus, Kommunismus, Kapitalismus, zwischen West und Ost, Russland, Tschechien, Deutschland, schließlich die kosmopolitische Melancholie und Sehnsucht des Alters.

Aus der listigen kriminalistischen Recherche eines dunklen Familiengeheimnis wird die Besichtigung eines Jahrhunderts. Und trotzdem ist dieser in einer wunderschönen schlanken Prosa gehaltene Roman so leicht gepackt, voller Witz, voller Selbstironie und skeptischer Liebe für seine gebeutelten Gestalten, dass man gar nicht anders kann, als ihn seiner tiefen Tragik zum Trotz für ein Buch voller Leben und Schönheit zu halten.

Als Junge hatte Biller Angst, sein Leben könnte eine jener Geschichten sein, wie sie Kindern beim Einschlafen erzählt werden, und dass, wenn eines Tages das Buch mit seiner Geschichte zugeklappt würde, sein Leben damit zu Ende ginge. Dagegen hilft nur, immer weiter zu schreiben. Mit seinem neuen Roman hat er das Buch des Lebens um ein entscheidendes Kapitel erweitert. Die, denen Gerechtigkeit sonst nicht wiederfuhr, sind darin gerechtfertigt und leben für immer fort.

Maxim Biller: „Sechs Koffer“. Roman. Kiepenheuer&Witsch. 208 Seiten, 19 Euro.