Liebesflimmern an der Zapfsäule: „Let your love flow“, singt George Harrison in Wolf Haas’ neuem Roman. Foto: © Coffee Jack / Pinterest

Ein neuer Roman von Kult-Autor Wolf Haas: Der „Junge Mann“ erzählt von einer seltsamen Reise und stößt in Regionen vor, von denen die deutsche Literatur nur träumen kann.

Stuttgart - In guten Krimis kommt nichts vor, was nicht an irgendeiner Stelle noch eine Rolle spielen wird. Klar, dass jemand wie Wolf Haasdiese Regel kennt, denn seine Brenner-Krimis zählen zum schönsten, was das Genre zu bieten hat, und haben ihn zu einem Kultautor gemacht, der versöhnt, woran sich die Geister scheiden: das Hohe mit dem Niedrigen, das Ernste mit dem Komischen, die Rumpfsprache mit den höchsten Weihen der Linguistik- und den Brenner mit dem lieben Gott.

Sein neues Buch hat mit der Welt des abgehalfterten Wiener Ermittlers allerdings nur insofern zu tun, als es sich bei dem titelgebenden „Jungen Mann“, der hier aus seiner Kindheit und Jugend erzählt, durchaus um den späteren Brenner-Erfinder Wolf Haas handeln könnte. Er teilt mit diesem zumindest einige grundlegende Einsichten in das Wesen einer gut erzählten Geschichte, zum Beispiel den erwähnten Grundsatz, nur das, was unbedingt sein muss, mitzuteilen und über den Rest zu schweigen. Wie der fesche Fernfahrer Tscho aus dem Nachbardorf, der die schönsten Frauen abbekommt, ohne viel zu reden und sich meistens damit begnügt, die Antwort seines Gegenübers zu wiederholen, mit dem Zusatz „sagt er“. Was immer wieder zu wunderschönen Dialogen wie dem folgenden führt, in dem Tscho aus seinem dicklichen Beifahrer, eben jenem jungen Mann, der immerhin die Oberschule besucht, herauskitzeln möchte, was er über das Leben nach dem Tod gelernt hat: „Ich sage, es gibt gar nichts.“ „Sag ich auch.“ „Sag ich auch, sagt er.“

Überirdisches Lächeln

Jetzt muss man natürlich erklären, wie der junge Mann ausgerechnet in Tschos Scania gelandet ist, wo er sich doch beim Autoscheibenputzen unsterblich in dessen Frau Elsa verliebt hat. Man ist gewissermaßen schon auf großer Fahrt halb in Griechenland und hat noch kein Wort über das Tanken verloren, das für einen Roman, der auf der Straße spielt, eine wesentliche Voraussetzung bildet. Und hier haben nun die Leser der Stuttgarter Zeitung einen entscheidenden Vorteil. Denn manchen von ihnen dürfte die Szenerie bekannt vorkommen, weil sie bei dem Zeitungs-Projekt „Extrablatt“ vor einigen Jahren bereits an einer Probefahrt teilnehmen konnten, freilich noch ohne zu wissen, wohin die Reise gehen würde. In einem damals für die StZ geschriebenen Text hat Wolf Haas schon einmal die Shell-Tankstelle ein einem kleinen österreichischen Ort eröffnet, in der der junge Mann während seiner Schulferien jobbt, und, weil der Stimmbruch erst noch bevorsteht, trotz seines professionellen Gebarens („Öl, Wasser, Luft in Ordnung? Batterie okay“) immer wieder zu seinem größten Ärger für ein junges Fräulein gehalten wird. Es ist die Zeit, in der der Bundespräsident des Nachbarlandes Walter Scheel heißt. Sein Fahrer schaut öfter vorbei, weil Scheel in der Nähe ein Ferienhaus besitzt wie der Nazi Spitzy und ein amerikanischer Schokomillionär, dessen Produkte dem jungen „Fräulein“ ein gehöriges Gewichtsproblem eingetragen haben.

Und dann steht eben eines Tages Tschos Wagen mit Elsas überirdischem Lächeln darinnen an der Zapfsäule und gibt dem Leben des adipösen Tankwarts ein neues Ziel: abnehmen und dem Tscho die Frau ausspannen. Weil er gut Englisch kann, und Elsa zu gerne wissen würde, was mit den Zeilen George Harrisons „let your love flow“ gemeint ist, kommt er in seinen Angelegenheiten, unterfüttert von einer strengen Diät, recht gut vorwärts. Wird dadurch allerdings auch für den feschen LKW-Fahrer immer attraktiver, denn der könnte wegen einer Zollangelegenheit in Griechenland jemanden gebrauchen, der auf der „Pfaffenschule“ gelernt hat, mit Sprachen umzugehen. So gerät das junge „Fräulein“ auf den Beifahrersitz eines Romans, der immer mehr an Fahrt aufnimmt. An seinem Ende ist es endgültig zum jungen Mann gereift und die Literatur um eine berückende Beziehung reicher – nicht die zwischen dem Erzähler und Elsa, sondern zwischen dem Tscho und seinem Sozius. Die Reise führt von Versuchung zu Versuchung („Pizza ist ein Mädchenessen.“ „Mädchenessen, sagt er.“) über die letzten Dinge ins Paradiz - einem zweifelhaften Etablissement in Nis - und wieder zurück ins Leben.

Schlauer Spediteur der Sprache

Dass daraus eine Geschichte, ja eine Offenbarung wird, liegt nicht an dem, was sich gar nicht so leicht als Handlung fassen lässt, weil das meiste davon eh auf der Strecke bleibt. Es liegt vielmehr daran, dass sich Haas wie in allen seinen Werken als gewiefter Spediteur zwischen der Welt der Sprache und der Welt der Dinge erweist. Auf einem Lieferwagen in Griechenland wundert sich der Erzähler einmal über das Wort „Metafora“, was wiederum für den Tscho das Normalste auf der Welt ist: „Das heißt einfach Transport.“ Und genau hier kommt jenes erwähnte Prinzip zum Tragen, nicht mehr zu transportieren, als unbedingt notwendig. Es gibt wohl keinen Satz in diesem Buch, der nicht an entscheidender Stelle wiederkehren würde. Auf kunstvolle Weise verschlingt Haas Redeweisen, Marotten und Motive in einem virtuosen Kontrapunkt der Korrespondenzen: die Proviantverpackungskunst der Mutter, den Kalorienkomplex, das KfZ-Kennertum und eine Vielzahl sinn- und unsinnsvoller Regeln und Weisheiten. Die dahin geplauderten Wörter stützen sich gegenseitig, das Zufällige wird zwingend und trägt dieses zarte Roadmovie sicher aus der Gefahrenzone des Kitsches in jene Regionen, in die die deutschsprachige Literatur seit Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ immer wieder vergeblich vorzudringen versucht. Tschick, sagt er, würde Tscho jetzt sagen. Muss man aber gar nicht. Wolf Haas hat seine eigene Weise, das Schwere leicht erscheinen zu lassen - das gilt für das Leben und Schreiben gleichermaßen.

Wolf Haas: Junger Mann. Roman. Hoffmann und Campe. 240 Seiten, 22 Euro.