Dürre, Kakteen und Gespenster: So erscheint Arizona in Téa Obrehts Roman. Foto: imago images / blickwinkel/A. Hartl

Wem die Decke auf den Kopf fällt, kann sich von Téa Obrehts fantastischem neuen Roman in die Weiten der Prärie tragen lassen. „Herzland“ erzählt nicht nur von der Gründungszeit der Vereinigten Staaten. Er macht den Leser selbst zu einem Pionier, der ins Ungewisse vorstößt.

Stuttgart - Es klingt vielleicht blöd, ein ziemlich unvergleichliches Buch mit Vergleichen einzuführen. Aber die 1985 in Belgrad geborene Téa Obreht ist für die amerikanische Literatur so etwas ähnliches wie Sasa Stanisic für die deutsche: Ein Glücksfall, der sich von dem dunklen Hintergrund des jugoslawischen Bürgerkriegs abhebt.

Etwa zur gleichen Zeit, in der es den jungen Bosnier Stanisic auf der Flucht vor Tod und Vertreibung nach Deutschland verschlagen hat, wo er zum vielbepreisten und -gepriesenen Schriftsteller reifte, landete die zwölfjährige Serbin Téa Obreht in den USA. Für ihren ersten Roman „Die Tigerfrau“ erhielt sie den National Book Award. Und wie Stanisic in seinem Dorfroman „Das Fest“ das uckermärkische Hinterland des wilden Ostens zum Resonanzraum der Geschichte machte, dringt Obreht nun mit ihrem zweiten Buch in das Kerngebiet des amerikanischen Mythos, den Wilden Westen, vor.

„Herzland“ erzählt das ganze Leben des aus dem Balkan stammenden Einwanderers Lurie Mattie und einen Tag aus dem rauen Dasein der Siedlerin Nora Lark, deren Wege an einem Punkt heftig kollidieren. Lurie, der wegen seiner Herkunft von allen für ein Türke gehalten wird, ist der wohl merkwürdigste Glücksritter, der je die Weiten der Prärie durchquert hat, was natürlich auch an seinem Reittier liegt. Das Karriere-Modell des amerikanischen Traums behält ihm den eher bescheidenen Aufstieg vom Grabräuber zum Kameltreiber vor. Umso eigenartiger die Perspektive aus dem Sattel eines dieser langbeinigen Wüstenwesen auf die sattsam bekannten Western-Szenerien, in denen sonst Pferde, Büffel und tierischen Trieben unterworfene Menschen ihren Platz haben. Aber Kamele?

Vom Grabräuber zum Kameltreiber

Dabei ist ausgerechnet das keine belletristische Fata Morgana, sondern eine historisch verbriefte Tatsache. Schon vor dem amerikanischen Bürgerkrieg war das US-Camel-Corps im Südwesten des Landes im Einsatz, weil man sich von den dürreerprobten Tieren Vorteile gegenüber herkömmlichen Mulis oder Pferden versprach. Und weil Lurie, der eigentlich Djuric heißt, wegen des ein oder anderen Vergehens auf der Flucht ist, nutzt er die ihm beigelegte „orientalische“ Identität, um in der Gefolgschaft der exotischen Lastenträger unterzutauchen.

Den schwankenden Zickzackkurs durch ein Niemandsland im Aufbruch Roadnovel zu nennen, führt in die Irre. Denn von Road kann eigentlich keine Rede sein. Und ohne zuviel zu verraten, sei nur angedeutet, dass Lurie in jeder Hinsicht zu den wohl exzentrischsten Erzählern gehört, denen je in einem Roman das Wort erteilt wurde.

Nicht minder exzentrisch ist die Lage der Siedlerin Nora Larks, am Rande eines vertrockneten Kaffs in Arizona, wo sich die Landkarte in ungewisse Weiten verliert, um die sich Mexikaner, Viehdiebe, Indianer, und Großgrundbesitzer streiten. Seit Tagen wartet sie auf ihren Mann, der Wasser organisieren sollte. Mit den beiden älteren Söhne betreibt er in dem Städtchen eine Zeitung, und stört dabei das Interessengeflecht der Mächtigen, zum Beispiel, indem er sich für die Rechte der Indianer einsetzt.

Es ist heiß, allein mit ihrer gelähmten Schwiegermutter, einer spiritistischen Verwandten und ihrem jüngsten Sohn wartet Nora darauf, dass etwas passiert, durstig, zornig und voll der Erinnerungen. Und es passiert so einiges, worauf allein schon die Spuren eines Monsters in der Nähe des Hauses hindeuten.

Nur ein toter Autor ist ein guter Autor

Damit wären die Grenzpfähle eingerammt, von denen aus die Erkundung der Terra incognita dieses Romans erfolgten kann. Wovon er erzählt, ist zugleich sein Darstellungsprinzip. Das Gefühl, sich in einem neuen, bedrohlichen Lebensraum zurechtfinden zu müssen, wird nicht nur den Protagonisten abverlangt, sondern auch dem Leser. Und genau das ist der Grund, weshalb „Herzland“ auch in seinem Leben Epoche macht, den unzähligen Vorläufern zum Trotz, die den Westernmythos speisen.

Sie sind alle anwesend. Denn so realistisch hier in sprachlichem Technicolor die visionären Atmosphären sonnenumflirrter Unorte heraufbeschworen werden, so offen sind die Grenzen gleichzeitig in die Totenwelt. Die, auf die es ankommt, stehen mit einem Bein auf dem Boden historisch verbürgter Tatsachen, mit dem anderen im Geisterreich. Und dass nur ein toter Autor ein guter Autor ist, gilt, wo das Schießeisen locker sitzt, allemal.

Ein Begriff wie „magischer Realismus“ allerdings gibt so unzureichend wieder, was Téa Obreht hier veranstaltet, wie die Genrebezeichnung „Western“. Im Frontier-Mythos siedelt sie all jene an, die in nationalen Selbstvergewisserungsgeschichten keinen Platz finden. Eine Frau und ein falscher Türke, der wie Ahasver durch die Welt geistert, sind ihre Gewährsleute. In dem Geistergespräch, das sie führen, klingt wieder, was von John Ford bis zu den Coen-Brüdern, von James Fenimore Cooper bis zu Cormac McCarthy im Grenzland amerikanischer Träume und Ernüchterungen Gestalt gewonnen hat. Es wird zum Medium, in dem die Migrationserfahrungen einer jungen Frau aufscheinen, die als Kind gezwungen war, in der Fremde ein neues Leben zu beginnen, und sich dabei mutmaßlich so fehl am Platz vorgekommen sein mag wie ein Kamel im Wilden Westen.

Donald Trump dürfte diese zeitgemäße Geschichte aus der Frühzeit der Vereinigten Staate nicht gefallen. Sein Vorgänger Barack Obama jedoch hat den Roman auf seine Leseliste gesetzt.