Premierministerin Theresa May war davon ausgegangen, dass sie das Unterhaus ein drittes oder sogar ein viertes Mal zu ihrem Brexit-Deal befragen könnte. Foto: Getty Images Europe

Der Parlamentspräsident John Bercow stürzt den Brexit vollends ins Chaos: Völlig überraschend hat er eine weitere Abstimmung über Mays Austrittsabkommen mit der EU gestoppt.

London - Gänzlich unerwartet hat am Montag der Speaker des Unterhauses, John Bercow, den Brexit-Prozess vollends in Chaos gestürzt. Bercow schloss aus, dass die Regierung May ihr mit der EU ausgehandeltes Austritts-Abkommen in seiner jetzigen Form im Parlament ein drittes Mal zur Abstimmung stellt. Bisher war Premierministerin Theresa May davon ausgegangen, dass sie das Unterhaus ein drittes oder sogar ein viertes Mal zu ihrem Brexit-Deal befragen könnte.

In fieberhaften Verhandlungen am Wochenende und auch noch am Montag hatte sie versucht, Nordirlands Unionisten und Dutzende zaudernder Tory-Hinterbänkler für ihren Deal zu gewinnen. Sie hatte damit gerechnet, dass am Ende genügend Brexiteers klein beigeben und für das Abkommen stimmen würden – aus Angst davor, dass es andernfalls zu gar keinem Brexit kommen wird.

Nur ein geänderter Vorschlag wäre zulässig

Bercow aber erklärte, die Regeln Westminsters erlaubten nicht ohne weiteres einen erneuten Wahlgang. Ein Antrag, sagte er, könne in genau der gleichen Form während derselben Legislaturperiode nicht wieder vorgelegt werden. Dabei verwies der Speaker auf parlamentarische Traditionen, die bis ins Jahr 1604 zurück reichen. Es handle sich, meinte Bercow, um eine „starke und langjährige Konvention“.

Sollte die Regierung einen Vorschlag einbringen, der sich von dem unterscheide, der am 12. März vom Unterhaus abgelehnt worden sei, wäre das „vollkommen in Ordnung“, sagte Bercow. „Was die Regierung rechtlich nicht tun kann ist, dieselbe Vorlage oder inhaltlich dieselbe Vorlage, die vergangene Woche mit 149 Stimmen abgelehnt wurde, dem Unterhaus erneut vorzulegen.“ Dass er vorige Woche eine zweite Abstimmung erlaubt habe, sei völlig proper gewesen, sagte Bercow. Denn bei dieser Gelegenheit habe die Regierung außer dem eigentlichen Austrittsvertrag auch die in Straßburg erhandelten Zusatzabkommen vorgelegt. Ebenso stehe es der Regierung auch jetzt wieder offen, den Abgeordneten ein „in der Substanz geändertes“ Abkommen vorzulegen. Außerdem stehe es dem Unterhaus natürlich frei, die Regeln zu ändern, so es das wolle.

Bercows Bescheid, von dem die Regierung vollkommen überrumpelt wurde, machte mit einem Schlag die Regierungstaktik für die letzten Tage vor dem Austritts-Datum des 29. und 30. März zunichte. Mehrere Minister zeigten sich „schockiert“ und erklärten, für diese Situation habe die Regierung „keinen Plan“.

Großbritannien in einer Verfassungskrise?

Großbritanniens Generalstaatsanwalt Robert Buckland sprach am Montagabend von „einer echten Verfassungskrise“. Er hielt, um das Problem zu umgehen, eine Vertagung und rasche Wiedereinberufung des Parlaments für eine Möglichkeit. Auch so etwas hatte es in der Vergangenheit schon gegeben. Ein solches Vorgehen würde aber größere zeremonielle Umstände, wie zum Beispiel eine von der Königin verlesene neue Thronrede, erfordern. Und bis zum Brexit-Datum sind es nur noch elf Tage – außer May kommt vom EU-Gipfel am Donnerstag mit einer Vereinbarung über eine großzügige Verlängerung der Austrittsfrist zurück. Dass sich May um eine solche bemühen werde, falls das Unterhaus ihren Deal nicht noch annehme, hatte sie den Parlamentariern vorige Woche ja versprochen. Am Montagabend bestätigte sie, dass sie den EU-Ratspräsidenten Donald Tusk jetzt in einem Brief um einen solchen Aufschub bitten werde.

Brexiteers und Brexit-Gegner applaudierten Bercow unterdessen gleichermaßen für seine Entscheidung. Während die Pro-Europäer im Parlament nun mit einer langfristigen Verschiebung des Austrittsdatums rechnen, setzen die Brexit-Hardliner darauf, dass Großbritannien doch noch ohne Deal aus der EU ausscheiden könnte. Der prominente Brexit-Hardliner Jacob Rees-Moog jubilierte: „Darf ich sagen, wie erfreut ich bin, dass Sie sich entschieden haben, auf Präzedenzfälle zurückzugreifen“, sagte er an die Adresse Bercows. „Absolut wütend“ waren dagegen Anhänger Mays. Die EU erwartet, dass sich Großbritannien über das weitere Procedere bis spätestens Donnerstag im Klaren ist, wenn die Staats- und Regierungschefs zu Beratungen über den Fahrplan in Brüssel zusammenkommen.