Demonstranten unterstützen die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff Foto: imago stock&people

Immer bizarrere Züge nimmt die Spaltung der brasilianischen Gesellschaft an. Der Hintergrund ist die immer wahrscheinlicher werdende Amtsenthebung der Präsidentin Dilma Roussef.

Brasilia - Je wahrscheinlich die Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff wird, desto stärker polarisiert sich die brasilianische Gesellschaft. Die Stimmung wird zunehmend gereizter – im Internet, auf den Straßen, am Familientisch, und im Kongress sowieso. Brasiliens Parlamentarier pflegen einander mit „Vossa Excelência“ anzureden, aber besonders höflich gehen sie nicht miteinander um, und schon gar nicht in so stürmischen Zeiten wie diesen.

Exzesse im Parlament

„Weg mit der PT!“, schrien Exzellenzen der konservativen Opposition, und die Exzellenzen der – noch – regierenden PT, der Arbeiter-Partei der Präsidentin, riefen ihnen „Faschisten“ und „Putschisten“ zu. Als in der Impeachment-Kommission der Antrag auf Amtsenthebung verlesen und begründet wurde, umarmten sich die Befürworter und sangen die Nationalhymne, aber zeitweise war in all dem Geschrei kein Wort zu verstehen. Solche parlamentarischen Exzesse gab es immer wieder mal. Aber neu ist, dass die brasilianische Gesellschaft ähnlich aggressiv und verhärtet in zwei gegnerische bis feindliche Lager zerfällt.

Während politische Differenzen am Biertisch in normalen Zeiten zwar diskutiert werden, aber dann eben akzeptiert werden, macht sich neuerdings eine gewisse Intoleranz breit – bis hin zu so krassen Fällen wie der einer Kinderärztin in Porto Alegre, die sich weigerte, einen Säugling zu behandeln, weil dessen Mutter in der PT ist. Der bekannte Sportjournalist Juca Kfouri wurde vor seiner Wohnung von Gegnern gestellt, die ihn als „Hurensohn“ und „petista“, also PT-Anhänger beschimpften. Eine Gruppe Regierungsgegner lobte 1000 Reais – 250 Euro – für den aus, der den früheren Minister Ciro Gomes während eines Restaurantbesuches beschimpft.

Wutausbruch wird Internet-Hit

In Belo Horizonte wurde eine Theateraufführung abgebrochen, nachdem ein Schauspieler Rousseff und ihren Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva als „Diebe“ bezeichnet hatte. Zu ungewollter Internet-Berühmtheit hat es die Jura-Professorin Janaina Paschoal gebracht, eine der Personen, die den Antrag auf Eröffnung des Impeachment-Verfahrens gestellt hatte. Die 41jährige ist, hunderttausende von Malen geklickt, bei Youtube zu sehen, wie sie an ihrer Universität eine Rede hält – so wütend, dass sie dabei die Kontrolle über sich zu verlieren scheint. Das Internet quillt über von hämischen Kommentaren, die ihren unglücklichen Auftritt mit den Ausbrüchen evangelikaler Sektenprediger vergleichen. Auch beliebt im Netz: Die Rede der Professorin, unterlegt mit „The number of the beast“ von Iron Maiden.

Gemäß der politischen Lage ist die Linke eher auf Verteidigung eingestimmt. Obwohl das Impeachment-Verfahren in der Verfassung steht und gemäß ihren Vorgaben begonnen wurde, spricht die Linke von „Putsch“. Ein fatal überzogenes Wort: Die Umstände und Begründungen des Verfahrens mögen ja fragwürdig sein – aber bei „Putsch“ denkt man in Brasilien an den 30. April 1964, als das Militär die Macht übernahm. Chico Buarque, einer der berühmtesten Musiker Brasiliens, verglich das Impeachment sogar ausdrücklich mit dem Beginn der 21jährigen Diktatur. „Keinen Putsch, nicht nochmal“, rief er bei einer PT-Demonstration in Rio de Janeiro aus. Eine wenn auch feindliche Heiterkeit liegt immerhin in den abschätzigen Begriffen, die beide Lager für das jeweils andere geprägt haben.

Kollektive Psychose

„Petralhas“ heißen die Verfechter Rousseffs – eine unübersetzbare Zusammenziehung von PT und dem portugiesischen Namen der Panzerknacker-Bande bei Micky Maus. Und die Rechten werden als „coxinhas“ bezeichnet, so wie die landesüblichen, in Fett gebackenen Kalorienbomben aus Hühnchen im Teig. Ist das Urteil von Justizminister Eugênio Aragão übertrieben, das Land sei einer „kollektiven Psychose“ anheimgefallen? „Sie wollen gemeinsam lynchen“, urteilt jedenfalls eine 29jährige Lehrerin über die Urheber der Attacken, die auf ihrem Handy landeten; dessen Nummer unterscheidet sich nur durch eine Ziffer von der Lulas, die die Presse ungeniert veröffentlicht hat. Und der Filmregisseur Cacá Diegues („Bye bye Brazil“) orakelte sogar, womöglich sei bald die erste Leiche zu erwarten.