Die Sicherheitslage in Rio hat sich nach den Olympischen Spielen verschärft . Foto: dpa

Vor einem Jahr blickte die Welt auf die Olympischen Spiele in Rio. Die Hoffnung war groß, die Region könnte davon profitieren. Doch die Folgen sind ein einziges Desaster.

Rio - Den Preis für den brasilianischen Größenwahn zahlen auch die Fußballfans: „WM und Olympia haben uns das Maracanã genommen“, sagt Felipe Rizzeto verbittert. Der 37 Jahre alte Zeitungsverkäufer aus dem Stadtteil Copacabana im Herzen von Rio de Janeiro ist „Flamenguista“ wie sich die Fans des Fußball-clubs nennen. Doch der Sport ziert nicht mehr die Titelseiten der Zeitungen in seinem Kiosk. Die Blätter, die vor einem Jahr noch Jamaika-Sprinter Usain Bolt oder US-Schwimmer Michel Phelps präsentierten, zeigen nun Bilder von Überfällen und Opfern von Schießereien.

Rund 316 Millionen Euro kostete nach offiziellen Angaben der Umbau und die Modernisierung des Maracanã. Das berühmteste Stadion in Südamerika wurde auf ein Fünf-Sterne-Niveau gehoben – für die Premiumprodukte des Fußball-Weltverbands Fifa und des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), aber weit weg von der brasilianischen Lebensrealität. „Das kann doch keiner mehr bezahlen“, schüttelt Rizzeto den Kopf, wenn er die Berichte über Stadionmieten in seinen Zeitungen liest. Ins Land geholt wurden die Mega-Events Fußball-WM und Olympische Spiele von Brasiliens Ex-Präsident Lula da Silva, der Mitte der ersten Dekade dieses Jahrtausends seine Nation auf dem Weg zur Supermacht sah. Damals stieg der Ölpreis so hoch wie Lulas Träume.

Das Land zahlt einen bitteren Preis für den Größenwahn

Doch statt in die marode Infrastruktur seines Landes zu investieren, stellte Lula die Weichen für den Bau teurer Stadien. Nun zahlt das Land für die Entscheidungen einen bitteren Preis. Brasiliens politische Klasse war weder politisch, wirtschaftlich noch ethisch für diese Großereignisse gerüstet.

Flamengo spielt kaum noch in der riesigen Arena mit ihren gigantischen vier Videoleinwänden und dem extrahellen Licht für HD-Fernsehübertragungen. Wegen der horrenden Unterhaltskosten kann der Betreiber das Stadion nur gegen hohe Mieten zur Verfügung stellen, ansonsten droht der Ruin. Der Bundesstaat ist pleite und kann nicht einspringen. Wie viele Clubs weicht Flamengo deshalb in die Peripherie aus. Das Stadion wird zu einem Mahnmal für alles, was schiefgelaufen ist, rund um die WM 2014 und Olympia 2016.

Als wäre das noch nicht genug, wurde auch das Radstadion durch einen Großbrand beschädigt. Es sollte eigentlich das neue Leistungssportzentrum der Bahnradfahrer werden, doch der Unterhalt ist mit drei Millionen Euro im Jahr teuer – vor allem die Klimatisierung zum Schutz der Holzbahn. Hilfe ist keine zu erwarten. Fifa und IOC haben Rio längst den Rücken gekehrt und mit ihnen zahlreiche Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die mit umgezogen sind zu den nächsten Sportereignissen in Russland und Katar.

Auch die kritischen Beobachter haben sich verabschiedet

Gleich neben dem Maracanã steht die Ruine eines Museums für indigene Kultur. Damals, als das Museum im Rahmen des Stadionumbaus wegen eines Parkplatzes weichen sollte, starteten die NGOs publikumswirksame Aktionen, um das Museum zu retten. Die Bilder einer Straßenschlacht gingen um die Welt. Jetzt verschimmelt die Bausubstanz, Ungeziefer krabbelt durch das baufällige Haus. Und auch die selbst ernannten Retter haben das Interesse verloren. Seit Brasilien aus dem weltweiten medialen Fokus verschwunden ist, gibt es keine spektakulären Aktionen mehr. Nun hat eine Gruppe indigener Aktivisten das Schicksal des Kulturzentrums wieder in die eigene Hand genommen. Als sie Mitte April zurückkehrten, interessierte das aber gerade mal eine Handvoll lokaler Journalisten, von den NGOs war nichts zu sehen.

Geblieben ist das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat, das mit dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) auch nach Olympia weiter Projekte finanziert. So sah es die Selbstverpflichtung des deutschen Sports vor, der für Rio 2016 erstmals eine Art Aktionsbündnis schmiedete. Adveniat-Sprecher Christian Frevel zieht eine traurige Bilanz: „Inzwischen ist Rio sogar hinter die bettelarme Nordzone des Landes zurückgefallen. Die Menschen leiden enorm unter den Folgen der Korruption.“

Olympia versank in einem Sumpf aus Korruption

Wer ist aber schuld an der Misere? Das IOC, das offenbar über keinerlei funktionierende Kontrollmechanismen verfügte, um ein durch und durch korruptes politisches System zu überwachen, trägt sicher eine moralische Verantwortung. Doch nur das IOC verantwortlich zu machen wäre zu einfach. Allein der inzwischen wegen Korruption zu einer Gefängnisstrafe verurteilte Ex-Gouverneur Sergio Cabral hat umgerechnet rund 70 Millionen Euro unterschlagen. Während der Vorbereitungsphase für die Olympischen Spiele regierte er den Bundesstaat Rio de Janeiro. Cabral war ein langjähriger Weggefährte der inzwischen wegen haushaltspolitischer Tricks abgesetzten Ex-Präsidentin Dilma Rousseff.

Gegen Vorgänger Lula und Nachfolger Michel Temer ermittelt die Justiz derzeit wegen Korruption. Der amtierende Präsident Temer zog dieser Tage seinen Kopf noch einmal aus der Schlinge. Trotz der massiven Korruptionsvorwürfe kann er im Amt bleiben. Eine entscheidende Abstimmung im Abgeordnetenhaus gewann er knapp und entging damit seiner Suspendierung. Damit kann das Oberste Gericht kein Verfahren gegen Temer einleiten. Während der Vorbereitung für Olympia hatte sich der brasilianische Baukonzern Odebrecht wie ein Aasgeier auf die Bauarbeiten für die Großevents gestürzt, hatte die Politiker aller politischen Lager mit überteuerten Rechnungen gemästet, von denen dann die Schmiergelder gezahlt wurden.

„Die Gewalt ist beängstigend“

Die Rechnung für all das bezahlen nun die Cariocas. Rios Einwohner erleben eine Rückkehr der Gewalt. Die Drogenbanden sind längst in die Viertel zurückgekehrt, aus denen sie vor WM und Olympia vertrieben wurden. Die Gründer der populären Facebook-App OTT („Wo gibt es eine Schießerei?“), die nahezu in Echtzeit vor Gewaltakten warnt, dokumentieren den täglichen Horror auf Rios Straßen: Mehr als 2200 Schießereien gab es seit Jahresbeginn. „Die Gewalt ist beängstigend“, sagt App-Mitgründer Marcos Vinicius Baptista (36). „Es scheint als wäre der Krieg neu ausgebrochen.“ Sicherheitskräfte streikten, erhielten zum Teil monatelang keine Gehälter, andere ließen sich von der organisierten Kriminalität einkaufen.

Rio steckt in einem Teufelskreis: Weil die Gewalt nach Rio zurückkehrt, bleiben die Touristen aus. Die Hotelbranche vermeldet laut dem Fernsehsender R7 Umsatzeinbrüche von 30 Prozent. Geblieben ist immerhin eine neue U-Bahn-Strecke, einige Investitionen in den Nahverkehr und eine neue Begeisterung für den Behindertensport.

Nicht einmal der Olympiapark im Stadtteil Barra erfüllt die Erwartungen. Versprochene Umbauten und Nachnutzungen bleiben aus, nur ein Bruchteil der Wohnungen im Olympischen Dorf sind verkauft. Vor ein paar Tagen präsentierte das Nationale Organisationskomitee (NOK) dem IOC einen neuen Bettelbrief. Das Defizit des NOK belief sich Anfang Juni nach eigenen Angaben noch auf umgerechnet rund 30 Millionen Euro. Mit anderen Worten: Das NOK kann seine offenen Rechnungen nicht bezahlen. Zeitungsverkäufer Rizzeto hat da eine Idee: „Vielleicht sollten die mal bei Ex-Gouverneur Cabral nachfragen.“ Allein Cabral hat mehr als das Doppelte der offenen Summe in die eigene Tasche gesteckt.