Jochen Distelmeyer beim Auftritt in der Manufaktur in Schorndorf. Foto: Gottfried Stoppel

Die legendäre Hamburger Band Blumfeld hat sich wiedervereinigt. Auf der Tournee dazu hat sie jetzt in der Schorndorfer Manufaktur gespielt.

Schorndorf - Zur zweiten von vier Zugaben kommt Jochen Distelmeyer auf die Bühne geschlendert, in frischem Hemd, ein Handtuch um die Schultern, und macht dort etwas, was man schon lange nicht mehr auf Konzertpodien gesehen hat: er raucht. Die wohlverdiente Zigarette nach der schweißtreibenden Rockerarbeit, die nicht in Ruhe zu Ende geraucht werden darf, weil doch die ungeduldigen Fans nach mehr dürsten – ganz alte Schule, und was für ein herrliches Klischeebild. Eines freilich, das man seit Jahrzehnten ausgestorben wähnte.

Aber Jochen Distelmeyer ist ja ohnehin ein Musiker, der völlig aus der Zeit gefallen scheint. In niedlicher, fast schon possierlicher Offenherzigkeit bedankt er sich unermüdlich für den Zuspruch, der ihm und der Band widerfährt. Drollig und frei von jeder Ironie ruft er „ihr seid wundervoll“ ins Publikum, putzig wischt er sich die Haare aus dem Gesicht und nimmt – ehrlich verblüfft – mit „sehr geil, vielen Dank“ die Ovationen entgegen, mit den leutseligen Worten „Ihr seid ja unglaublich“ quittiert er den minutenlangen Applaus, mit dem Blumfeld nach zwei Stunden auch noch die letzte Zugabe abgerungen wird. Und in seinem bubenhaften Charme, dem jeglicher Rockmusikerhabitus fremd scheint, entfährt ihm zwischendurch, als ihm wieder einmal so viel Zuneigung entgegenschlägt, gar ein keckes „spitze“. Wenn er wie Hänschen Rosenthal dazu noch juchzend vor Freude in die Luft gesprungen wäre, hätte das auch niemanden mehr gewundert.

Ein scharfzüngiger, eloquenter Spitzbube

Doch der vermeintlich brave Bube ist auch ein scharfzüngiger, eloquenter Spitzbube. Der Musiker mit den artigen Manieren, den frisch gestärkten Hemden und dem akkuraten Seitenscheitel sieht noch immer so aus, wie er vor gut zehn Jahren bei der Auflösung von Blumfeld und wie er vor knapp dreißig Jahren bei der Gründung der Band aussah, scheint’s alterslos wie die Musik seiner Band. Aber er singt auch noch immer Verse wie „Ich will morden / Den Apparat der dich und mich bloß Apparat sein lässt“ (in dem Lied „Von der ,Unmöglichkeit ,Nein‘ zu sagen“, gleich zu Beginn des Konzerts); er teilt noch immer aus („Die Medien helfen ihnen beim Dummsein / Ein starker Staat hilft ihnen beim Stummsein“) in dem Stück „Diktatur der Angepassten“ zum Abschluss der ersten Zugabe; und er stellt noch immer lakonisch – in „Kommst du mit in den Alltag“, nun in der dritten Zugabe – fest: „Du warst noch nie da / Wo deine Träume spielen / Und du weißt auch gar nicht / Wo das ist.“

Diskurspop hat man dies genannt, damals, 1990, als die Band Blumfeld die so genannte Hamburger Schule begründete, die sich, so steht’s bei Wikipedia definiert, „durch deutschsprachige Texte auszeichnet, denen oft ein hoher intellektueller Anspruch zugemessen wird und die umfangreich mit Gesellschaftskritik, linkspolitischer Einstellung und postmodernen Theorien verbunden sind“. Musik also, die, seien wir mal ehrlich, genau das tat, was seit Woodstock international und spätestens seit den Einstürzenden Neubauten auch national durchaus vorhanden war und doch eigentlich ohnehin immer Ausdruck eines reflektierten Popkünstlerdaseins sein sollte: kritische, differenzierte Auseinandersetzung mit den Zeitläuften auf einem ästhetischen und intellektuellen Niveau, das über mittelmäßigen Schund hinausgeht. Aber damals war deutscher Pop eben auch Modern Talking, so wie heute deutscher Pop eben auch Max Giesinger ist. Und deshalb hat Musik wie jene der nun frisch wiedervereinigten Band Blumfeld eben noch immer ihre Alleinstellungsmerkmale und vor allem ihre höchst willkommene Daseinsberechtigung.

Alles weckt selige Erinnerungen

Und deshalb finden sich anlässlich dieses Ehemaligentreffens der Hamburger Schule am Freitagabend auch jede Menge Menschen in der Schorndorfer Manufaktur ein. Ihre Raison d’Être liefern Blumfeld mit vielen Stücken ihres Durchbruchalbums „L’etat et moi“, von den anderen Frühwerken sowie einigen Solostücken aus Distelmeyers Post-Blumfeld-Karriere, segensreicherweise unter Verzicht auf Ausrutscher wie den „Apfelmann“. Das Trio musiziert entspannt und distinguiert in seiner Originalbesetzung mit André Rattay an den Drums und Eike Bohlken am Bass, verstärkt ohne erkennbaren Sinn durch die zwei Livegitarristen Tobias Levin und (auch am Keyboard, seufz) Daniel Florey. Alles weckt selige Erinnerungen, alles fühlt sich aber auch verdammt richtig an. Jochen Distelmeyer erzählt zwischen den Songs viel dazu, in einem kleinen Anekdötchen, das er mit den Worten „wieder was dazugelernt – wie in der Hamburger Schule“ abschließt, macht er sich in diesem feinen Konzert seinen eigenen Reim auf das Schubladendenken.

Die zweite, längere Zugabe klingt schließlich mit Ella Fitzgeralds „Everytime we say goodbye“ aus. Wie erwähnt zwei weitere Male wird die Band noch auf die Bühne geklatscht, auch das ist längst nicht aller Tage zu bestaunen. Es ist nicht zuletzt Ausdruck eines rar gewordenen künstlerischen Einverständnisses zwischen Musikern und Publikum, auch das fühlt sich gut und richtig an. „Bis bald“, ruft der klatschnass geschwitzte Distelmeyer zum Abschied. Ja, hoffentlich!