Andreas Schneider hat die ersten 100 Tage einer Ausbildung im Blick. Foto: factum/Granville

Der frühere Trumpf-Ausbildungsleiter Andreas Schneider spricht im Interview über Pädagogen, Industrie 4.0 – und einen Sturz aus dem 26. Stock.

Ditzingen - Schule muss das Lernen lehren, das fordert Andreas Schneider. Der 64-Jährige nutzt seine langjährigen Erfahrungen jetzt als selbstständiger Berater. Er fordert Pädagogen und Politiker zum radikalen Umdenken auf – sonst werde das Bildungssystem nicht den Anforderungen der neuen Arbeitswelt gerecht.

Herr Schneider, hatte ein Schüler mit einer Vier in Mathe bei Ihnen eine Chance?
Selbstverständlich habe ich Azubis mit der Mathenote 4 eingestellt. Voraussetzung dafür war, dass sie im Eingangstest das notwendige Potenzial bewiesen haben.
Diese Schüler haben sich nachweislich später positiv entwickelt. Sie selbst haben maßgeblich dazu beigetragen, Noten als Eingangsvoraussetzung abzuschaffen ...
Das hatte einen einfachen Grund: Wir haben uns immer gefragt, warum Menschen mit vergleichbaren Noten einen so unterschiedlichen Ausbildungsverlauf nehmen.
Und wie lautet Ihre Antwort?
Eine Note beschreibt nicht die Nachhaltigkeit der erbrachten Leistung. Wissen ist flüchtig, solange es nicht emotional angebunden ist, es also nicht gelernt wurde. Wenn Schüler eine Klassenarbeit Wochen später unangekündigt nochmals schreiben, sind die Noten deutlich schlechter.
Wie Schüler lernen, ist nicht nachhaltig?
Ja, denn nach der Schule kommen die Schüler ins Unternehmen und stehen vor Aufgaben, die sie nicht lösen können. Wenn Firmen das Leistungsniveau der Schulabgänger bemängeln, ist das die Konsequenz der falschen Didaktik in der Schule. Wir brauchen bei der Auswahl der Auszubildenden eine am Potenzial orientierte faire Aussage, die die Berufsbefähigung des Schulabgängers in den Mittelpunkt stellt. Und das ist definitiv nicht die Schulnote.

Etabliertes System in Frage gestellt

Sie haben vielmehr auf die Persönlichkeit gesetzt – und damit ein etabliertes System maximal in Frage gestellt.
Es hat sich im Nachhinein als richtig erwiesen. Was in der Schule geschieht, halte ich für problematisch. Die Schule bereitet auf Sicherheit vor: Schreibe gute Noten, sei anständig und dein Leben ist geregelt. Was übrigens auch die meisten Ausbildungsabteilungen tun. Wir sollten die Schüler statt dessen auf ein Arbeitssystem vorbereiten, das auf Veränderung basiert. Veränderungsprozesse sind immer auch Lernprozesse. Doch die Didaktik 2.0 ist sehr statisch, sie hat mit den Anforderungen von Industrie 4.0 nichts zu tun, die wenig planbar ist. Dort wird heute so gedacht und morgen muss man anders handeln.
Aber Schule muss Grundwissen vermitteln.
Da gibt es keinen Dissens. Wir reden nicht über die Aufgabe der Schule, sondern über das didaktische Modell. Lernen heißt Emotionalität, Handeln, Reflexion eines Verhaltens. Es ist eine individuelle Auseinandersetzung mit einem Gegenstand. Schüler sollten nicht als Konsumenten oder Objekt in der Klasse sitzen. Pädagogen müssen das Lernen aktivieren. Sie dürfen die Schüler nicht als Festplatte missbrauchen, um irgendetwas aufzuspielen und bei Klassenarbeiten weder abzurufen.
Sie unterscheiden Wissen und Lernen. Was heißt das für die Ausbildung, in der Meister und deren Anweisungen im Zentrum stehen?
Damit werden die jungen Leute auf die veränderte Arbeitsweise nicht vorbereitet. Die Ausbildung muss ähnlich strukturiert sein wie das Unternehmen. Sie muss genauso dynamisch in den Anpassungsprozessen sein wie das Unternehmen. Wenn von einem Mitarbeiter verlangt wird, sich relativ schnell auf veränderte Arbeitsprozesse und Technologien einzustellen, ist das eine Zielsetzung für die Ausbildung. Wenn wir jemanden ausbilden, muss er sich so verhalten können wie ein Mitarbeiter. Das Äquivalent zum Ausbilder ist die neue Führungskraft. Von diesen verlangen wir Führungsqualitäten, die nicht auf hierarchischer Dominanz basieren; sie löst mit dem Mitarbeiter Aufgaben.

Neue Anforderungen an Führungskräfte

Es ist eine völlig andere Art der Führung.
Ja, sie ist kooperativ, kollaborierend und integrierend. Das muss der Ausbilder vorleben, damit die Auszubildenden die Führungsmuster der Produktion oder Verwaltung kennenlernen. Wir können in der Ausbildung nicht auf der Insel leben, autark wie in der Schule. Wir müssen die jungen Leute so mit einer Qualifikation und Einstellung zum Leben, dass sie ein vollwertiges Mitglied für die neue Art der Produktion sein können.
Die Arbeitswelt wandelt sich rasant.
Die extrem hohe Veränderungsgeschwindigkeit war vor zehn Jahren nicht einmal annähernd absehbar. Wir müssen im Industrie- oder Dienstleistungssektor künftig in der Lage sein, die stark wechselnden Bedürfnisse des Kunden relativ schnell abzudecken. Für die Unternehmen bedeutet das eine völlig andere Art der Steuerung, um ohne großen Vorlauf ein Produkt binnen weniger Tage und Wochen zu ändern.
Woher rührt dieser dramatische Wandel?
Das hängt stark mit Globalisierung und technologischer Veränderung zusammen. Nehmen wir das Beispiel Elektromobilität. Vor ein paar Jahren war das noch kein ernsthaftes Thema. Ein Verbrennungsmotor hat 1700 Teile. Im Elektromotor sind es noch 17. Um ihn zu montieren, brauchen wir möglicherweise noch nicht einmal Menschen, es reicht ein automatisiertes System. Heute beschäftigt Daimler in Untertürkheim aber ein ganzes Werk, um Verbrennungsmotoren zu bauen. Die Märkte verändern sich auch, weil die Produktinnovationen zunehmen, die wir heute noch gar nicht absehen können. Und da wir in globalen Märkten agieren, müssen wir auf die globalen Veränderungen schneller reagieren als in der Vergangenheit.
Die Digitalisierung tut ihr Übriges.
Wir stehen vor einer großen Digitalisierungsoffensive, vor einer Umschichtung von Arbeitsprozessen, vor einem extrem hohen Automatisierungsgrad in Produktion und Verwaltung – gerade dort gibt es noch wesentlich mehr Potenzial zur Automatisierung. Immer mehr der bisherigen Arbeitsplätze werden wegfallen, wenn Roboter Einzug halten.
Das hieß es vor Jahren auch schon.
Wir konnten die Arbeitsplätze wegen des stetigen Wirtschaftswachstums halten. Bei einer Stagnation wird es an die Arbeitsplätze gehen. Das Arbeitsamt hat vor wenigen Jahren geschätzt, dass 1,5 Millionen Arbeitsplätze durch die Digitalisierung wegfallen. Natürlich entstehen neue Arbeitsplätze, aber ob die Mitarbeiter von heute dafür geeignet sind, das ist die große Frage. Wir brauchen deshalb auch in der Ausbildung ein neues Lernmodell, das integrativ im Prozess der Arbeit etabliert ist.
Feilen, bohren, fräsen muss man aber doch immer noch lernen, oder?
Natürlich muss der Auszubildende am Ende noch bohren und fräsen können. Um das zu lernen, hat er drei Jahre Zeit. Mir geht es um die ersten hundert Tage, in denen wir einen Neubeginn schaffen. Eine Idee, wie Bildung sein muss – eben die Generierung von Werten, Einstellungen und Qualifikationen für die Zukunft der Arbeit.

Neue Formen der Zusammenarbeit

Und wie muss das aussehen?
Ein Mechaniker, ein Elektriker und eine Bürofachkraft haben bisher für sich gearbeitet. Nun bilden Wirtschaftswissenschaftler, Maschinenbauer, Programmierer und Kaufleute eine gemeinsame Projektgruppe, um möglichst schnell und effizient die Anforderungen des Marktes umzusetzen. Durch die Veränderungsprozesse wird es einen hohen individuellen, selbstgesteuerten Lernprozess geben müssen. Wir können nicht ewig warten bis zum nächsten Seminar, es muss im Arbeitsprozess „just in time“ gelernt werden. Das ist ein Kennzeichen von Industrie 4.0, also muss auch die Ausbildung interdisziplinär und am Kunden ausgerichtet sein, damit ein Verständnis für gemeinsames Arbeiten entstehen kann.
Nachvollziehbar, dass Sie sich deshalb für das anwendungsorientierte Lernen in der Schule stark machen. Dafür, dass die Veränderung so notwendig ist, wie Sie schildern, ist es aber noch erstaunlich ruhig in Schule und Ausbildungsstätten.
Stellen Sie sich vor, jemand fällt aus dem 26. Stock, fliegt am 13. vorbei und stellt fest: Bisher ist ja noch alles gut gegangen. So ähnlich ist es momentan in der Schule. Aber irgendwann wird man mit dem System die Bedürfnisse des Marktes nicht mehr bedienen. Da ist Jörg Fröscher . . .
. . . der Rektor der Theodor-Heuglin-Schule in Ditzinger Ortsteil Hirschlanden . . .
. . . auf dem richtigen Weg. Wir haben uns getroffen, wenn es Sinn gemacht hat und für beide Seiten einen Mehrwert hatte. Dadurch ist die Bildungspartnerschaft auch gesellschaftsverträglich und Schule nicht willfähriger Diener von Unternehmen. Das können nur Menschen sagen, die nicht verstanden haben, was wir gemacht haben.
Für das neue Lernen muss die Lehrerausbildung verändert werden. Das lässt sich nicht von jetzt auf gleich machen.
Aber wir können sofort beginnen. Was ich in der Bildungspolitik in Baden-Württemberg beobachte: Sie schaut zurück.
Was ist das Problem der Politik?
Sie hat die falschen Orientierungsgrößen, ob sie Iglu oder Pisa heißen. Machen wir eine Schulreform, weil wir uns an eine zukünftige Welt anpassen wollen oder machen wir eine Schule, damit wir gut in Tests abschneiden? Die Politiker verstehe ich schon. Wenn Baden-Württemberg deutlich schlechter im Lesen abschneidet als früher, müssen sie aufpassen, dass ihnen nicht die Wähler davonrennen. Dass wir durch so ein Verhalten Zukunft gefährden, wird ausgeblendet. Dabei ist der Mensch unser einziger Rohstoff. Und es ist maximal fahrlässig, wie wir damit umgehen. Das kann doch auf Dauer nicht gut gehen. Ich würde mich ja gerne einmischen. Aber glauben Sie, die Kultusministerin Susanne Eisenmann würde sich einen Termin mit mir antun? Das kann ich mir nicht vorstellen.

Von der Schule über die Ausbildung ins Arbeitsleben

Person
Andreas Schneider hat 1970 eine Mechanikerlehre bei Trumpf gemacht. Der Handwerksmeister war zunächst Ausbilder im Unternehmen und von 1992 bis zu seinem Ruhestand 2016 Ausbildungsleiter. Danach machte sich der heute 64-Jährige in Abstatt (Kreis Heilbronn) selbstständig als Berater für innovative Bildungsprozesse.

Schule Der Maschinenbauer Trumpf und die Theodor-Heuglin-Schule (THS) haben früh eine Bildungspartnerschaft gegründet und vergleichsweise viele Projekte zusammen gemacht. Das brachte dem Rektor Jörg Fröscher die Kritik ein, seine Schule zu sehr auf die Interessen der Wirtschaft auszurichten. Vor wenigen Wochen informierte Schneider auf Einladung des Fördervereins der THS über die Erwartungen der Wirtschaft an Schulabgänger.
Lehre Zuletzt war Andreas Schneider auf Einladung der Industrie- und Handelskammer (IHK) Erfurt bei einem „Tag der Ausbilder“ zu Gast. Er sprach dort über die veränderten Anforderungen an Ausbilder in Unternehmen.
Industrie In der modernen Fabrik sind Roboter nicht mehr in abgetrennten Sicherheitsbereichen hinter Glas oder abgezäunt, sondern produzieren mit Mitarbeitern Hand in Hand. Laut der IHK Region Stuttgart meldet fast jeder zweite Betrieb in der Region Stuttgart derzeit offene Stellen. Um auf den Fachkräftemangel zu reagieren, wollen mehr als die Hälfte der befragten Unternehmen verstärkt ausbilden.