Viele Hände wandern über das Geländer an der Pforte in Karlsruhe Foto: Leif Piechowski

Die Erstaufnahmeeinrichtung des Landes für Flüchtlinge platzt aus allen Nähten. Die Landesregierung beginnt jetzt einen Suchlauf für eine neue Konzeption. Abhilfe schaffen soll ein zweiter Standort. Für interessierte Gemeinden hätte eine Aufnahmestelle Vorteile.

Stuttgart/Karlsruhe - Der erste Eindruck von Baden-Württemberg fällt nüchtern aus. Die Landeserstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge, kurz Lea genannt, liegt am Rande von Karlsruhe in einem Gewerbegebiet. Es schüttet wie aus Eimern. Der Lärm der A 5 klingt herüber, vor dem Haus rollt der Verkehr über eine große Straßenkreuzung. Drum herum Schienen, ein Rangierbahnhof, als grüner Fleck dazwischen, fast idyllisch, eine Schrebergartenkolonie. Wer als Asylbewerber nach Baden-Württemberg kommt, landet hier.

Deutsche Gründlichkeit gehört zu den ersten Eigenschaften des neuen Landes, die die Flüchtlinge kennen lernen. An der Pforte regeln Schilder das Leben. Rauchen verboten. Keine Fahrräder oder Tiere auf dem Gelände. Selbstredend auch kein Alkohol. Besuchszeiten: Von 10 bis 20 Uhr. Erläutert in fünf Sprachen. Die Asylsuchenden selbst können das Gelände jederzeit verlassen und betreten. Schließlich ist es kein Gefängnis. Auch wenn der Zaun auf den ersten Blick etwas anderes vermuten lässt.

„Der dient in erster Linie dem Schutz. Wir haben hier viel Bahngelände. Mit dem Zaun können die Leute ihre Kinder springen lassen“, sagt Manfred Garhöfer. Er leitet die Abteilung 8 im Regierungspräsidium Karlsruhe und ist damit unter anderem für die Lea zuständig. Sein Büro liegt in einem Verwaltungsbau am Rande des Geländes. Seit 1990 dient die kleine Siedlung mit mehrstöckigen Häusern als erster Anlaufpunkt für Flüchtlinge im Land. Hier bleiben sie, bis ihr Asylantrag gestellt und ein Platz irgendwo in Baden-Württemberg gefunden ist. Von hier aus werden sie nach einem festen Schlüssel auf alle Städte und Landkreise verteilt.

Die Lea platzt aus allen Nähten. Knapp 14 000 Flüchtlinge sind im vergangenen Jahr angekommen, 12 000 mehr als noch vor einigen Jahren. Maximal 1150 Leute gleichzeitig können auf dem Gelände unterkommen. Ursprünglich war es einmal für 950 vorgesehen. „Wenn etwa über den Jahreswechsel viele Asylbewerber eintreffen und gleichzeitig durch die Feiertage die Weiterverteilung stockt, gibt es Nächte, in denen die Leute auf den Fluren schlafen müssen“, sagt Garhöfer.

Die Regel ist das freilich nicht – was auch daran liegt, dass die Lea derzeit neun Außenstellen im ganzen Karlsruher Stadtgebiet angemietet hat. Dort kommen weitere 850 Menschen unter. „Anders wäre es zurzeit nicht möglich“, sagt Garhöfer und fügt hinzu: „Wir können ja den Zeitpunkt nicht bestimmen. Wenn über Nacht plötzlich 70 Leute auf einmal kommen, muss man die irgendwo unterbringen.“

Eine Dauerlösung ist das nicht. Über kurz oder lang sollen die Außenstellen wieder schließen. „Das geht schon allein vom Personal her nicht. Wir müssen derzeit jeden einsetzen, der verfügbar ist, und zudem noch Fremdfirmen engagieren“, sagt der Abteilungsleiter. Doch wohin mit den Leuten? Bis Ende 2015 hilft ein zusätzlicher Standort in Mannheim. Bis zu 800 Flüchtlinge sollen dort unterkommen. Danach jedoch steht das Gelände nicht mehr zur Verfügung. „In der Zwischenzeit müssen wir gemeinsam mit dem Integrationsministerium nach einer Dauerlösung suchen“, sagt Garhöfer.

Der Suchlauf beginnt in diesen Tagen. „Der Ministerrat wird voraussichtlich noch in diesem Monat die Fachressorts mit einer Konzeption für die Erstaufnahme beauftragen“, sagt Fatih Ekinci vom Integrationsministerium. Der Fokus liegt klar auf einer dauerhaften zweiten Einrichtung neben Karlsruhe. Wo die sein könnte, ist ebenso unklar wie die künftige organisatorische Struktur. „Da sind wir im Moment noch ergebnisoffen, zumal vieles vom tatsächlichen Liegenschaftsangebot abhängen wird“, so Ekinci.

Platz wird es brauchen für eine zweite Lea. Den gibt es eigentlich nirgendwo. Dennoch könnte das Thema für manche Stadt interessant sein: Wer eine Erstaufnahmeeinrichtung hat, muss keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen. Und spart damit viel Geld, denn die Pauschale, die das Land den Kommunen für die Unterbringung von Asylbewerbern zahlt, reicht in der Regel nicht aus. Die Lea dagegen wird komplett vom Land finanziert.

Grundsätzliche Ablehnung ist daher vielerorts unwahrscheinlich. Auch in Stuttgart, das allein schon wegen seiner Stellung als Landeshauptstadt als möglicher zweiter Standort gilt, reagiert die Verwaltung zurückhaltend. „Wenn das Land das Ansinnen einer zweiten Lea an uns heranträgt, denken wir darüber nach“, sagt der stellvertretende Sozialamtsleiter Stefan Spatz. Voraussetzung sei aber, dass eine solche Unterkunft nicht zusätzlich sei, sondern andere Plätze ersetze. Eine große Unterkunft wie in Karlsruhe kann Spatz sich allerdings nicht vorstellen: „Dafür braucht es erst einmal eine entsprechende Fläche.“

Mit dem Suchlauf ist es aus Sicht der Landesregierung nicht getan. Auch der Bund sei jetzt am Zug, betont das Integrationsministerium. Dort müssten die Grundlagen geschaffen werden, um die Leistungen und das Verfahren für Asylbewerber neu zu regeln. Dann könnten diese beispielsweise schneller eine Arbeit aufnehmen als bisher. Ferner sei der Bund gefordert, „die Asylverfahren deutlich zu verkürzen und sein Personal hierfür aufzustocken“, sagt Ekinci.

Schnellere Verfahren könnten einige Unterbringungsprobleme lösen. Und das nicht nur in Karlsruhe. Dort können Flüchtlinge eigentlich bis zu drei Monate bleiben. Derzeit versucht man, sie möglichst nach vier Wochen an die Landkreise und Städte zu übergeben – um Platz zu schaffen. Das Problem setzt sich überall fort. Landauf, landab stöhnen die Kommunen, weil sie ständig neue Unterkünfte schaffen müssen.

Das führt zu teils kuriosen Situationen. In Böblingen etwa sind 28 Menschen aus Mazedonien und Serbien, vorwiegend Roma, in einem Trakt eines Personalwohnheims eines Krankenhaus einquartiert worden. „Wir suchen händeringend nach Möglichkeiten und wollen die Menschen ja auch auf humane Weise unterbringen“, sagt eine Sprecherin des Landkreises. Und: „Die Situation ist wirklich angespannt.“

In Stuttgart leben derzeit 1700 Flüchtlinge – im Lauf des Jahres müssen 1300 zusätzliche Plätze geschaffen werden. „Unter größten Anstrengungen“, betont Stefan Spatz vom Sozialamt. Ab und an auch unter Widerstand. Nicht nur im Stuttgarter Stadtbezirk Feuerbach gehen manche Anwohner gegen neue Standorte für Flüchtlingsunterkünfte auf die Barrikaden. Auch anderswo ist die Lage angespannt: In mancher Unterkunft brodelt es ebenso. Räumliche Enge, lange Verfahren und eine unsichere Zukunft bilden kein vorteilhaftes Gemenge. Immer häufiger wird zudem von wachsender Kriminalität berichtet. „Wir sind Deutschland dankbar für die Hilfe, aber Plätze wie dieser sind nicht gut“, sagt etwa ein afghanischer Flüchtling in einer Unterkunft in Kirchheim/Teck.

Vor Reibereien ist man auch in der Karlsruher Lea nicht gefeit. Das müsse nicht immer mit der Enge zusammenhängen, sagt Abteilungsleiter Garhöfer: „Wir haben hier eben zum Großteil junge Männer.“ Insgesamt sei die Lage jedoch „eher ruhig“, was auch an den Vorsichtsmaßnahmen liege: „Wir versuchen, verschiedene Nationalitäten getrennt unterzubringen, wenn Konflikte absehbar sind.“

An diesem Tag gibt es keinen Ärger. Der Regen ist abgeklungen, die Bewohner zieht es ins Freie. Die unterschiedlichsten Nationalitäten, Religionen und Hautfarben versammeln sich da. Es gibt eine Kantine, ein kleines Taschengeld, eine Untersuchung durch Mitarbeiter des Gesundheitsamts und eine Sozialbetreuung. Im Kindergarten kommen nicht nur kleine Kinder unter, sondern alle Minderjährigen – weil es für die kurze Zeit auf dem Gelände keine Schule gibt. Fotos vom letzten Zoobesuch hängen an der Wand. „Wir haben derzeit 70 Mädchen und Jungen“, erzählt Dharshan Ibrahim, die seit 18 Jahren in dem Kindergarten arbeitet. Gesprochen wird konsequent Deutsch, dazu stehen Spiele und Sport auf dem Programm. Viele ehrenamtliche Helfer machen das erst möglich.

Durch die Pforte kommt eine Familie aus Afrika. Neuankömmlinge. Einen einzigen Koffer zieht der Vater für sich, seine Frau und die drei Kinder hinter sich her. „Wir sind froh, dass wir hier sind“, sagt er in gebrochenem Französisch. Die Müdigkeit steht ihm ins Gesicht geschrieben. Das Wetter, das Gewerbegebiet, die Autobahn – egal. In diesem Moment überwiegt die Hoffnung auf ein neues Leben in Baden-Württemberg.