Thomas Michel hat einen ganz speziellen Besen. Foto: Caroline Holowiecki

Vor zehn Jahren hat der Völkerkundler Thomas Michel auf dem Haigst in Stuttgart-Degerloch seine Besenwirtschaft eröffnet. Geschmückt hat er sie standesgemäß mit echten Schädeln.

Degerloch - Wie erkennt man eine schwäbische Wirtschaft, die einem Völkerkundler gehört? Draußen hängt der Besen, drinnen stehen Kannibalen-Schädel. Was klingt wie ein Stammtisch-Kalauer, ist in „Michel’s Gauder-Besen“ Realität. Neben historischen Trinkgefäßen und uriger Wein-Deko schmücken die sterblichen Überreste zweier Krieger vom Stamm der Eipo aus Neuguinea den Gastraum.

Der Wirt ist in Stuttgart kein Unbekannter. Der Ethnologe Thomas Michel leitete von 2001 bis 2009 das Lindenmuseum. Jahre zuvor hatte der Forscher beim Kannibalenvolk fernab der Zivilisation gelebt. Und sogar mit den Eingeborenen Menschenfleisch verspeist. Aus dem Oberschenkel eines im Stammeskrieg getöteten Feindes. Ja, überwinden habe er sich müssen – aber im Sinne der Forschung habe es gegolten, die große Ehre anzunehmen. „Sonst hätte ich gehen müssen.“ Als Andenken an die aufregende Zeit im Nirgendwo hat er Teneplop und Jirip mitgenommen. Oder: was von ihnen übrig ist. Die Schädel des im Alter von 30 Jahren erschossenen Kriegers und des mit 76 gestorbenen Seniors haben im Besen auf dem Haigst ihre letzte Ruhe gefunden. Die Eipo pflegen einen intensiven Ahnenkult, erklärt Thomas Michel.

Weinberg zu verkaufen

Dass der 72-Jährige heute in Wein, Sülze, Handkäs, Wurst und Maultaschen macht, hat er gleich mehreren schicksalhaften Fügungen zu verdanken. Während seiner Zeit im Lindenmuseumhabe er immer aus dem Bürofenster die Steillagen bewundert. „Ich habe leichtfertig zu meiner Sekretärin gesagt, dass ich selber gern einen Weinberg hätte.“ Wenig später brachte die einen Zettel daher: Weinberg zu verkaufen. Gesagt, getan.

Die erste Ernte ging komplett in die Hose, „ich habe keine Ahnung gehabt“. Die missratenen Schnittversuche beobachtete ein gewisser Eberhard Gauder, Wengerter und Wirt. Der Gauder-Besen ist in Degerloch seit 1924 ein Begriff, seit 1974 ist er an der Meistersingerstraße zu finden. Der Experte nahm Thomas Michel in die Lehre und verkaufte ihm später erst seine Anbauflächen und dann sein Haus samt Gastwirtschaft.

Die hat der Neu-Gastronom vor zehn Jahren als „Michel’s Gauder-Besen“ wiedereröffnet. Im Garten hinterm Haus wachsen Bananenbäume und exotische Baumfarne, drinnen gibt’s Trollinger, Shiraz, Gewürztraminer und mehr. Sieben Rebsorten baut Thomas Michel auf einem Hektar an. „Ich bin ein Abenteurer“, sagt er grinsend. Eine Familie ernähren könne man mit so einer Vesperwirtschaft nicht, stellt er klar. Er spricht von Liebhaberei und einer „kulturellen Aufgabe“.

Wegen der Menschenknochen erst mal festgenommen

Und so prallen die Kulturen im heimeligen Speisesaal, in dem besenkonform 40 Leute Platz finden, eben aufeinander. Nicht jedem springt hier direkt ins Auge, dass er unter Gebeinen vespert. „Ich habe schon erlebt, dass Stammgäste gesagt haben, dass ihnen das noch nie aufgefallen sei“, sagt Thomas Michel. Er grinst. „Was nicht sein kann, sieht man nicht.“

Der Mann mit dem buschigen Schnauzer und den rosigen Wangen erzählt gern von seinen Forschungsreisen zu Eingeborenen, die zuvor noch nie einen Weißen gesehen hatten, und auch darüber, dass deutsche Zollbeamte ihn seinerzeit wegen der Menschenknochen im Koffer erst mal festgenommen hatten, kann er heute herzlichen lachen. „Das ist ein allgemeiner Schutzpatron, wenn man so will“, sagt er und lugt zu Jirips Schädel hinauf. „Er macht einen guten Job. Ich war noch nie krank.“

„Michel’s Gauder-Besen“ ist auf dem Haigst in Degerloch an der Meistersingerstraße 23. Er hat dieses Jahr noch bis zum 13. Dezember geöffnet, mittwochs, donnerstags und freitags von 16 bis 23 Uhr, samstags von 15 bis 23 Uhr und sonntags von 11 bis 23 Uhr. Nach einer kurzen Pause geht es vom 22. Januar bis zum 15. März weiter.