Ein Student (Vincent Lacoste ) zeigt Marie (Blanche Gardin) das Sextape, mit dem er sie erpressen will in der französischen Satire „Effacer l’historique“. Foto: Berlinale

An diesem Samstag werden die Bären vergeben. Unter den Favoriten sind die deutschen Beiträge „Undine“ und „Berlin Alexanderplatz“. Rätselhaft bleibt, wieso viele stärkere Filme nicht im Wettbewerb laufen.

Berlin - Die Amerikanerin Alison Bechdel hat 1985 in einen Comic drei Fragen eingebaut, die stereotype Frauenbilder in Filmen entlarven: Gibt es mindestens zwei Frauenrollen? Sprechen sie miteinander? Unterhalten sie sich über etwas anderes als einen Mann? Der Bechdel-Test ist seither das Mittel der Wahl, um nachzuweisen, dass Frauen im Film unterrepräsentiert sind und untergeordnete Rollen spielen.

Daneben gibt es noch den Mirren-Test, wie die Oscar-Preisträgerin Helen Mirren (74, „Die Queen“) am Donnerstag bei ihrer Berlinale-Pressekonferenz verrät – am Abend bekommt sie den Goldenen Ehrenbären für ihr Lebenswerk. „Ich lese immer zuerst die letzte Seite eines Drehbuchs“, sagt sie. „Wenn meine Rolle auch auf der letzten Seite auftaucht – alles gut. Wenn nicht, blättere ich von hinten bis zu meiner Figur zurück. Wenn diese zu leise aus dem Film verschwinde, lohnt es sich nicht, das Skript von Beginn an zu lesen – dann ist es keine gute Rolle.“ Helen Mirren blickt auf eine reiche Karriere zurück – und lässt wie schon Cate Blanchett ein wenig von ihrem Glanz auf die Berlinale abstrahlen.

Frauen reden über Beziehungen

Einige Frauen gehen auch als Favoritinnen in die Preisverleihung am Samstagabend im Berlinale-Palast, zum Beispiel die US-Regisseurin Eliza Hittman und ihre Protagonistin Sidney Flanigan. Die spielt in „Never Rarely Sometimes Always“ die 17-jährige Autumn, die mit einer Schwangerschaft und deren Abbruch ganz alleine dasteht im konservativen Pennsylvania. Allein das Verhör durch eine Sozialarbeiterin ist sehenswert: Auf sehr intime Fragen nach sexuellen Erfahrungen hat Autumn vier Antworten zur Auswahl – „nie“, „selten“, „manchmal“ und „immer“. Bären aller Art sind hier denkbar.

Chancen haben auch die Schweizer Regisseurinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond, die in „Schwesterlein“ ein tiefgründiges Beziehungsgeflecht stricken um Nina Hoss und Lars Eidinger – dessen Figur als Star der Berliner Schaubühne praktisch mit ihm identisch ist bis auf die dramaturgisch entscheidende Krebserkankung. Freunde großen Schauspielerkinos werden das verschmerzen. Noch feiner inszeniert ist der koreanischen Beitrag „The Woman who ran“, der ein starkes weibliches Ensemble bietet. Eine junge Frau kommt nach Jahren zurück in die Kleinstadt ihrer Kindheit und besucht alte Freundinnen – und im Dialog wie in der Mimik und Gestik zwischen den Zeilen werden ganz fein frühere Verwerfungen und unaufgearbeitete Verletzungen sichtbar. Regie führte hier Hong Sangsoo, ein Mann – und er besteht den Bechdel-Test.

Digitale Überflutung

Weniger eindeutig ist das bei „Le sel des larmes“ von Philippe Garrel. In seiner schwarzweißen Truffaut-Hommage treten drei eindrucksvolle junge Frauen auf, doch sie kreisen um einen unreifen Macho und Feigling, der nicht auf der Höhe der Zeit ist. Sehr universell wirken dagegen die Mittelschichts-Probleme, die Gustave Kervern und Benoît Délépine in ihrer satirischen Komödie „Effacer l’historique“ bearbeiten: Neoliberale Kälte und digitale Überflutung stürzen ihre drei Protagonisten ins Chaos. Weltklasse ist allein schon ein Monolog, in dem Corinne Masiero einem Nachbarn erklärt, wie ihre Serien-Sucht seit „Six Feet under“ (2001) nach und nach ihr Leben ruiniert hat.

Zweifellos Bären-tauglich sind die deutschen Wettbewerbsbeiträge. Christian Petzolds mythisches Wassergeist-Drama „Undine“ ist eine wahrhaftige Romanze, in der eine sehr eigene, eigentümliche Stimmung herrscht. Paula Beer und Franz Rogowski geben darin eines der schönsten, einfühlsamste Filmpaare seit langem. Burhan Qurbanis Tragödie „Berlin Alexanderplatz“ wiederum ist eine kunstvolle Adaption des Romans von Alfred Döblin, dramaturgisch dicht, Bildern und Ton meisterhaft montiert. Hier zeigt Albrecht Schuch als psychopathischer Gangster Reinhold eine beängstigend glaubwürdige Leistung, die Döblin selbst hätte gefallen können. Das Handicap: Die Höllenqualen der Hauptfigur, des Flüchtlings Francis alias Franz, dauern drei Stunden.

Festival-Jurys sind unberechenbar

Nicht alle erfüllen die Erwartungen. Sally Potters Alzheimer-Drama „The Roads not taken“ mit Javier Bardem als dementem Vater und Elle Fanning als treusorgender Tochter zieht sich, weil sie auf die unerquickliche Gegenwart fokussiert statt auf die spannenderen Rückblenden der verpassten Chancen des Kranken. An manchen Filmen scheiden sich die Geister: Ist die kurze erotische Annäherung eines Chinesen und eines Thais in Tsai Ming-liangs Film „Rizi“ ein Meisterwerk der Entschleunigung – oder ereignisfreie Zeitverschwendung?

Viel interessanter ist die Frage, wieso in Nebenreihen oft die stärkeren Filme laufen – auch Weltpremieren, die der Wettbewerb verlangt. Johannes Nabers Irak-Kriegs-Satire „Curveball“ zum Beispiel lief in der Reihe Berlinale Special, und im Panorama Uisenma Borchus mongolisches Drama „Schwarze Milch“, in dem eine Frau nach 20 Jahren aus Deutschland zurückkehrt zur ihrer Schwester in die Steppe und dort als Zivilisations-Zombie alles durcheinanderbringt. Festival-Jurys sind oft unberechenbar, aber selten unberührt vom Zeitgeist. Es wäre kein Wunder, wenn die diesjährige den Bechdel-Test als ein Entscheidungskriterium anwenden würde.

Ausstrahlung 3sat, 19 Uhr. Es moderiert der Schauspieler Samuel Finzi.