Astrid Kessler (Mélisande) und Joachim Goltz (Golaud) Foto: Hans Jörg Michel

Der Regisseur Barrie Kosky hat Claude Debussys Oper „Pelléas et Mélisande“ am Nationaltheater Mannheim als spannendes Kammerspiel inszeniert.

Mannheim - Zwei Hände, vier Hände. „Fass mich nicht an!“, singt Mélisande. Sie ist von hinten an Golaud heran getreten. „Fass mich nicht an!“, singt die Frau, die aus dem dunklen Nichts kam, und dann verschränken sich ihre Hände vor Golauds Bauch mit den seinen. So geht der Abend weiter: als große Oper, die der Bühnenbildner Klaus Grünberg am Nationaltheater Mannheim in ein mittig auf der Bühne aufgebautes kleines Mini-Theaterchen hineingepresst hat, als konzentriertes Musiktheater-Kammerspiel voller Dialektik, als packendes, intimes Körpertheater. Zu sehen ist eine Koproduktion mit der Komischen Oper Berlin, und wenn es (nach der wundervoll vielschichtigen Inszenierung von Wagners „Meistersingern“ in Bayreuth) noch eines Beweises bedurft hätte, dass deren Intendant Barrie Kosky weit mehr kann als schrille Revue und pointiert revitalisierte Operette, dann ist er hier, bei Debussys symbolistische Maeterlinck-Oper „Pelléas et Mélisande“, hautnah zu erleben.

Der Raum allein ist bereits ein Theater-Coup: Drei nach hinten sich verengende Bühnenportale begrenzen die Spielfläche auf ein Minimum, und auf der in schmale Ringe unterteilten Drehbühne bewegen sich die Figuren nicht nur selbst, sondern werden vor allem bewegt, getrieben, werden gegeneinander geschoben, zueinander hin- und voneinander weggezogen. So gleiten die Figuren nach rechts fort, während andere von links kommend ihren Platz einnehmen. Weil die differenziert eingesetzte Lichtregie diese Dynamik zusätzlich stützt, gelingt auf geradezu virtuose Weise eine visuelle Entsprechung zu einem Stück, in dem sich die scharf getrennten, oft hart aneinander geschnittenen Szenen des Librettos an einer Musik reiben, die oft wirkt wie ein schillerndes Klangband: sprachnah, oszillierend, ein feiner Wechsel dichter Atmosphären. Genau so dirigiert der Generalmusikdirektor Alexander Soddy das Nationaltheater-Orchester, und so gestalten auch die sehr gut besetzten Sängerdarsteller: vor allem Astrid Kessler als Mélisande, Joachim Goltz als Golaud und der fantastisch souveräne Fridolin Bosse vom Kinderchor als Yniold, aber auch Raymond Ayers als Pelléas und Patrick Zielke als Arkel.

Barrie Kosky verstärkt den Zoom-Effekt der Bühne durch eine Regie der kleinen Gesten und Schattenrisse wie durch eine ausgefeilte Strategie der Verschiebungen und der subtilen Gegenrede. Das „Fass mich nicht an!“ der umarmenden Mélisande in der ersten Szene der Oper ist der Auftakt zu einer (bis auf einen Ast und Mélisandes Ring) requisitenlosen Inszenierung, die oft auf fast taschenspielerhafte Weise den Sprecher und das Gesagte auseinander treibt. Wenn so immer wieder ein Sänger ausführt, was ein anderer sagt, wenn außerdem Stimmen von außen ertönen, deren Besitzer erst später auf die Bühne fahren oder wenn von gerade Singenden nur einzelne Gliedmaßen auf die Bühne ragen: Dann setzt die Szene fort, was Debussys Musik andeutet, und die lockere Szenenfolge formt sich zu einer Geschichte, die man bis zum Ende hellwach mitverfolgt. Dass die Rätsel von „Pelléas et Mélisande“ nicht in plumpen Bildern aufgelöst, sondern bestehen bleiben, ist nicht nur keine kleine Leistung, sondern ganz große Bühnenkunst.

Termine: 2. und 8. Juni, 14. und 24. Juli