Elisa Badenes als Salome mit Foto: Stuttgarter Ballett

Mit „Krabat“ glückte Demis Volpi 2013 ein Hit für die ganze Familie. Nun hat sich der Haus-Choreograf des Stuttgarter Balletts mit seinem Team Oscar Wildes „Salome“ vorgenommen. Nach der Uraufführung am Freitag im Opernhaus ist klar: Kinder lässt man beim nächsten Ballettbesuch besser zu Hause.

Stuttgart - Seit „Krabat“ verfolgt Demis Volpi eine Idee von Tanz, die klare Abgrenzungen liebt: Nur wer in jeder Hinsicht frei ist, ob als Mensch oder als Künstler, kann sich auch so bewegen. Nicht ganz unproblematisch ist dieses Konzept in einer Kompanie wie dem Stuttgarter Ballett, wo tänzerisches Potenzial nicht brachliegen gelassen, sondern abgerufen werden will.

Man durfte also gespannt sein, welche Lösung sich Volpi bei seiner Umsetzung der Geschichte von Salome einfallen lassen würde. Denn schließlich ist Jochanaan, wie Johannes der Täufer in Oscar Wildes kurzem Drama heißt, der einzige, der in seinem Willen ganz frei scheint, auch wenn er in einem engen Kerker hockt und am Ende seinen Kopf lassen wird.

Nachdem Volpi bereits in seinem letzten Stück, „Der Geschichte vom Soldaten“, den Tanz extrem sparsam dosiert hatte, war für „Salome“ ähnliches zu befürchten. Und so konnte man am Freitag im Opernhaus, als sich der Vorhang zu einer sanften Klangwolke von John Adams hob, erst einmal aufatmen: Ja, da wird tatsächlich getanzt!

Nicht viel übriggeblieben ist von Oscar Wildes Drama um Unschuld und Begehren

Zumindest am Anfang. Für seine Ouvertüre holt Volpi nicht einfach Sterne, sondern gleich den Mond vom Himmel: Alicia Amatriain verkörpert bis zum bitteren Ende den Erdtrabanten, auf den Wildes Figuren böse Vorahnungen und ungestillte Sehnsüchte projizieren. Wie eine Larve ruht die Tänzerin in einer Sichel, der sie dann entsteigt, um auf einer Showtreppe auf- und abzugehen, die schönsten Ballettfiguren auf den schmalen Stufen wie Waren auszustellen und biegsam dem Mond Menschengestalt zu geben.

90 Minuten später allerdings, als sich der Vorhang auf eine blutgetränkte Bühne und diverse Leichen senkt, ist das anfängliche Aufatmen zum Stoßseufzer angewachsen. Falls Volpi, der mit „Krabat“ ein junges Ballettpublikum erreichte, beweisen wollte, dass er auch anders kann – nämlich garantiert nicht jugendfrei –, dann ist dieser Abend ein voller Erfolg. Nicht viel übriggeblieben ist dabei leider von Oscar Wildes Drama um Unschuld und Begehren, um den Traum vom Ideal und der Unmöglichkeit seiner Erfüllung.

Wo bei Wilde vieles unausgesprochen zwischen den Zeilen bleibt, entscheidet sich Volpi fürs Explizite und macht körperliches Verlangen zum Motor. So wird Elisa Badenes in der Rolle der Salome zur kessen, kurzhaarigen Draufgängerin. Flott dreht sie ihre Pirouetten, zeigt sich in schnellem Hin und Her von allen Seiten, während David Moore als Jochanaan in der Unterbühne kopfüber an einer Leiter zuckt. Mit ausgebreiteten Armen verweist der Täufer auf den Tod Jesu, den seiner vorwegnehmen wird – und wirkt, als sei er direkt aus Glen Tetleys „Sacre“ hier abgestiegen.

Man muss nicht prüde sein, um diese Sexparade gähnend langweilig zu finden

Über diesem Ort der Unschuld wird Volpi später mit Hilfe seiner Ausstatterin Katharina Schlipf den Hof von Herodes als Swingerklub im Leder-Latex-Look inszenieren: Die Sklavinnen tragen Spitzenkorsetts, hohe Stiefel und die Äpfel der Versuchung gleich körbeweise auf dem Kopf, ihre männlichen Kollegen Riemchen und Lederschurz; zwischen ihnen wimmeln die Sünden als schwarzes, latexglänzendes Getier umher.

Die Partygäste haben graue Anzüge gewählt, lassen aber schnell die Hosen runter. Denn hier darf jeder mit jedem. Die ausführlichen Bewegungen dieses Ballett-Kamasutra kommen locker aus der Hüfte. Aber Tanz soll die zwanghafte Sex-Gymnastik gar nicht sein, schließlich agiert hier jeder als Gefangener seiner Triebe, unfrei wie die ackernden Gesellen in der „Krabat“-Mühle.

Man muss nicht prüde sein, um diese Sexparade gähnend langweilig zu finden. Während man sich im Theater am harten Naturalismus solcher Szenen reiben kann, neigt Ballett zu belangloser Ästhetisierung. Eine Zumutung ist sie in diesem Fall, weil sie über den Selbstzweck nicht hinauskommt. Denn die Geometrie stillen Verlangens, die Wildes Personal eigentlich in vielfältige Beziehungen setzen müsste, deutet Volpi kaum an. Herodes bleibt trotz rotem Samtjäckchen blass, seine Ängste und den Wunsch nach Ablenkung davon darf Roman Novitzky nur kurz aufscheinen lassen; noch unklarer platziert ist seine Frau Herodias (Miriam Kacerova). Salomes Tanz, sehr reduziert und mit Apfel statt Schleier, kann das Kraftfeld von Begierde und Eifersucht kaum klären.

Man erlebt die finstersten 90 Ballettminuten seit langem

Und Jochanaan, dessen Leib als weiß wie Lilien beschrieben wird, müsste lebend für Salome eigentlich unerreichbar sein. Doch kaum hat sich eine Wache von der Schönen becircen lassen und holt den Eingekerkerten nach oben, hat sie die Hände am Hintern des Unantastbaren. Er mag die Hartnäckige wegstoßen, so heftig er will, gleich klebt sie ihm wieder am Hals. Unverständlich bleibt nach dieser Nähe die Szene am Schluss, wenn Salome dem schlachtfrischen, bluttriefenden Haupt Jochanaans einen Kuss aufzwingt. Da hilft auch nicht, dass sich der Kopf-Tanz zum Oralsex steigert.

Nicht nur, weil diese „Salome“ vor schwarzer Treppe und unter der Bühne tanzt, erlebt man die finstersten 90 Ballettminuten seit langem. Eine krude Enthauptungsszene, wie sie Jochanaan ins Jenseits befördert, ist in Zeiten, in denen das Internet dem Terror aus aller Welt Plattformen bietet, schwer auszuhalten. Und dass in einem Stück, dessen Sprache nicht die Worte, sondern Gesten und Bewegungen sind, am Ende doch ein einziger Satz fällt, gibt diesem den Impakt eines Schusses: „Tötet dieses Weib!“, ruft Herodes, als treffe ihn keine Schuld am Schlachtplatz, dem er flieht. Einen differenzierteren Blick auf die feministischen Fragen, die dieses Stück aufwirft, statt ihre Reduktion auf klischeehaft körperliches Verlangen, wäre wünschenswert gewesen.

Klanglich schön aufgefangen ist der Absturz dieser „Salome“

So bleibt der Verdacht, dass viele Entscheidungen nach ästhetischen, nicht nach inhaltlichen Kriterien fielen. Denn wer „Salome“ aktualisiert, wie das hier optisch geschieht, muss auch den Inhalt näher an unsere Gegenwart rücken: Wer von Dekadenz sprechen will, kann über wachsende Ungleichheit nicht schweigen.

Man hätte formidablen Tänzern wie Elisa Badenes, wie Özkan Ayik und Martí Fernandez Paixa als den beiden in ständigem Zwiespalt agierenden Bewachern des Jochanaan einen stimmigeren Rahmen für ihre Kunst gewünscht. Klanglich schön aufgefangen war der Absturz dieser „Salome“ auf alle Fälle: Die Musik von John Adams setzt nicht nur flirrend sanfte, sondern auch dramatische Akzente. Den Kompositionen des E-Violonisten Tracy Silverman, der persönlich spielte und raue Töne anstimmte, hätte auch eine radikalere Umsetzung des Salome-Stoffes als Verrat von Idealen gut gestanden.

Doch Applaus gab es für alle Künstler so reichlich, dass einzelne Unmutsäußerung schlicht untergingen.

In derselben Besetzung tanzt das Stuttgarter Ballett „Salome“ am 15. und 17. Juni. Weitere Aufführungen gibt es bis zum 7. Juli im Opernhaus; für alle Vorstellungen gibt es nur noch Restkarten.