Sie holen ein Stück Sommerhimmel auf die Bühne: Der Choreograf Louis Stiens lässt im zweiten Satz der „Vier Jahreszeiten“ die jungen Tänzer der Cranko-Schule ungeahnte Kräfte entdecken. Foto: Stuttgarter Ballett Foto: Ballett

Zum 36. Mal tanzten Ballettstars und Nachwuchs bei einer Ballett-Matinee im ausverkauften Opernhaus für den guten Zweck: Der Erlös kommt der Aktion Weihnachten zugute.

Stuttgart - Wenn Klassisches auf Neues trifft und Nachwuchstalente auf einer Bühne mit den Spitzentänzern des Stuttgarter Balletts stehen – dann ist es wieder Zeit für die Ballett-Matinee zugunsten der Aktion Weihnachten. „Ein einmaliger Kunstgenuss“, wie Jan Sellner, Lokalchef unserer Zeitung, bei seiner Begrüßung im ausverkauften Stuttgarter Opernhaus betont.

Ballett mit Herz

Einmalig ist nicht nur das, was dem Publikum geboten wird. „Das Stuttgarter Ballett liegt im Herzen der Stadt und die Tänzer zeigen auch Herz“, sagt Sellner. Wie in den Jahren zuvor verzichten die Tänzer von Stuttgarter Ballett und John-Cranko-Schule auf ihre Gage zugunsten der Aktion Weihnachten, der Benefizaktion der Stuttgarter Nachrichten für hilfsbedürftige Menschen in und um Stuttgart.

Belohnt werden sie mit tosendem Applaus – und mit Blumensträußen in orange-roten Farben, gestiftet von den Württembergischen Gärtnern. Herzliche Worte des Dankes richtet Jan Sellner an alle Mitwirkenden der Gala auf und hinter der Bühne – allen voran Reid Anderson, Intendant des Stuttgarter Balletts, Tadeusz Matacz, Direktor der John-Cranko-Schule, und Marc-Oliver Hendriks, Geschäftsführender Intendant der Staatstheater.

Reise durch die Jahreszeiten

Eröffnet wird die Matinee mit den „Vier Jahreszeiten“; vier Absolventen der Cranko-Schule hatten sie anlässlich von Reid Andersons 20-Jahr-Jubiläum im Juli choreografiert. „Unglaublich, wie perfekt die Tänzer sind; dabei sind sie noch Schüler“, hört man viel Lob in der Pause. So tanzen beim „Frühling“ sogar ganz junge Talente mit. Wie die Knospen, die sie verkörpern, blühen sie auf der Bühne förmlich auf. Von Vogelgezwitscher begleitet, biegen sich die Mädchen zart im Wind, die Jungs springen voller Lebensfreude. Reduziert, aber doch kraftvoll bricht der „Sommer“ an. Die Tänzer scheinen sich von Ketten zu befreien, im „Herbst“ werden die Bewegungen langsamer. Ein letztes Sich-Aufbäumen, dann sinken die Tänzerinnen dahin, werden nochmals aufgefangen. Letztendlich müssen sie doch dem „Winter“ weichen – verkörpert von Julliane Franzoi und Adrian Oldenburger, inzwischen als Eleven beim Stuttgarter Ballett angekommen. Das Heulen des Winds lässt sie erzittern, doch ihr Tanz ist alles andere als unterkühlt, sondern voller Leidenschaft.

Für immer jung

Zu erleben war an diesem Vormittag auch, was für eine Chance es ist, eine Einrichtung wie die Cranko-Schule in Stuttgart zu haben. Das Bild einer weltoffenen Stadt trägt der Ballettnachwuchs bei seinen Auftritten hinaus – und sorgt daheim im Opernhaus für ein junges Publikum an diesem Adventmorgen. Unter den Stammgästen ist auch Carla Böhm; es ist die zwölfte Gala der Aktion Weihnachten, die die mittlerweile 15-Jährige miterlebt. Mit vielen Tänzern ist sie großgeworden, mit Fabio Adorisio und Constantine Allen zum Beispiel: Bei der Gala 2011 eilten sie als Cranko-Schüler und schnelle Tiere durch den „Karneval der Tiere“; fünf Jahre später setzen sie als Stars des Stuttgarter Balletts Glanzlichter.

Keiner bleibt zurück

Mit einem Solo rückt Fabio Adorisio nicht nur Constantine Allen ins schönste Licht. Er trifft mit einem zutiefst menschlichen Ton auch den Anlass dieser vorweihnachtlichen Benefizgala, die in Not Geratenen beisteht. „Left Behind“ (Zurück gelassen) heißt das Stück und zeigt einen Menschen, der gegen Ängste, Selbstzweifel, Einsamkeit aufbegehrt, den unsichtbare Kräfte gleich zu Beginn aus dem Licht ziehen und später zu Boden zwingen – und der sich doch immer wieder hochkämpft. Keiner soll zurückbleiben: Was dieses Solo in Bilder packt, könnte auch das Motto der Aktion Weihnachten sein. Schwarz ist der Tänzer gekleidet, fast droht ihn der dunkle Raum zu schlucken. Helle Akzente setzen Hände, die in wilden Ausbrüchen den Raum erobern, und der Rücken Constantine Allens. So ist Tanz der Moment, der Licht und Schatten in Balance hält.

Zum Licht!

Wichtige Rolle im Gala-Geschehen spielt alljährlich ein prunkvoller Kronleuchter. In diesem Jahr leuchtet er auf einen Pas de deux aus „Dornröschen“, für den David Moore der Gruppentänzerin Veronika Verterich zuverlässiger Partner bei allen klassischen Herausforderungen ist. Wie Matrosen auf Landgang dürfen die Herren in Bridget Breiners „Sirs“ wanken und verhelfen ihrer Kollegin Alicia Amatriain zu Höhenflügen und komischen Ausritten. Mit viel Humor inszenierte auch Roman Novitzky sein tänzerisches Streicher-Quartett in „Cello Contra Bass“: Keinen der vier hält es auf dem Stuhl; Vivaldi und Paganini gehen Tänzern eben vor allem virtuos in die Beine. Ein schöner Vollmond wirft sein Licht auf den Garten der Capulets: Hyo-Jung Kang und David Moore setzen mit großer Poesie als Romeo und Julia den Rausch des ersten Kusses in Tanz um.

Ein Engel geht vorüber

So wie John Cranko diese unmögliche Liebe bebilderte, wäre ein Happy End durchaus eine Option. Auf der Bühne ist schließlich alles möglich – auch ein Engel, der vorübergeht. Rocio Aleman heißt er an diesem Morgen und hat in Rolando d’Alesios Duett „Absence“ ein Tuch überm Kopf. Von blindem Vertrauen erzählt diese wunderbare Tanzbegegnung, in der Louis Stiens als zorniger junger Mann erst unter Strom steht, um dann in einem kunstvoll verwickelten Dialog Nähe zu erfahren. Schön, wenn jeder so über sich hinauswachsen dürfte.