Hier ist das Team noch komplett: Stinnes mit den beiden Techniker und Kameramann Carl-Axel Söderström (zweiter von rechts) – der einzige Mann, der bis zum Ende die Tour mit ihr durchstehen wird. Foto: Archiv Ulf Söderström/Carl-Axel Söderström

Im Zeitalter der Kurzreisen ist so eine Tour undenkbar: Vor 90 Jahren, am 25. Mai 1927, startet Clärenore Stinnes als erster Mensch zu einer Reise um die Welt und schreibt Automobilgeschichte.

Stuttgart - Angst? „Höchstens davor aufzugeben.“ Doch diese Vokabel fehlt in ihrem Wortschatz, erzählt Clärenore Stinnes rückblickend auf ihren Roadtrip, der so verrückt, strapaziös und lebensgefährlich war, dass sich beim Lesen ihrer Geschichte („Eine Frau reist um die Welt“, Frederking & Thaler) unweigerlich die Frage aufdrängt, wie man, nein, frau, so eine jahrelange Tortur überhaupt durch- und überstehen kann. Fräulein Stinnes, die 26-jährige automobilbegeisterte Tochter aus gutem Hause, die sich als erfolgreiche Rennfahrerin schon einen Namen gemacht hat, erklärt es so: „Wäre ich damals nicht vom ersten Tage an nicht gewesen für alle Tücken des Materials in der Zerreißprobe, die uns bevorstand, dann hätte ich aufgegeben.“

Das Ignorieren möglicher Risiken dürfte nicht allein ausschlaggebend gewesen sein. Die drei männlichen Begleiter, zwei Mechaniker sowie der schwedische Kameramann Carl-Axel Söderström, attestieren ihrer Expeditionsleiterin eine unglaubliche Zähigkeit und Härte gegen sich selbst. „Sie muss aus Stahl gemacht sein, so wie sie alles aushält, kein Wort der Klage“, notiert Söderström staunend in sein Tagebuch. Am Ende wird er der einzige Mann sein, der die Strapazen, den Hunger, die Krankheiten, die Bedrohungen durch hungrige Wölfe und marodierende Räuber, die Sand- und Schneestürme überstanden hat – mit Folgen für ihn und seine stählerne Chefin.

Das Fahrzeug ist ein Adler Standard

Clärenore Stinnes hat schon früh einen durchsetzungsstarken Kopf. Mit elf lernt sie, ein Auto zu lenken, indem sie, stur wie sie ist, die Chauffeure des Vaters zwingt, sie heimlich auf Feldwegen ans Steuer zu lassen. Um das „Comme il faut“ der besseren Kreise samt standesgemäßer Partie schert sich die Industriellentochter wenig. Sie fährt erfolgreich Autorennen, heimst 17 Rennsiege ein und gewinnt 1925 auch eine Rallye quer durch Russland – der entscheidende Impuls für ihre Reise um die Welt.

Sage und schreibe 46 000 Kilometer legt sie mit dem Adler Standard 6 zurück, damals ein von den Adler-Werken in Frankfurt produzierter Serienwagen, der als einzige Besonderheit Liegesitze bekommt. Clärenore Stinnes ist die Bertha Benz der Langstrecke. Eine Frau mit kurzen Haaren, markanter Nase, schmalen Lippen, die Hosen und weite Hemden mit Krawatte trägt, als wolle sie durch Äußerlichkeiten möglichst wenig auf ihr Geschlecht aufmerksam machen.

25 Monate dauert die Tour de Force durch den Balkan, die Türkei, den Kaukasus, Sibirien, Süd- und Nordamerika. Ausgebaute Straßen sind in vielen Ländern so selten wie Oasen in der syrischen Wüste, die sie in einem Gewalttrip in 40 Stunden bei 50 Grad im Schatten durchqueren. In Südamerika wird Dynamit zum wichtigsten Reiseutensil – wo Felsmassen das Vorankommen verhindern, sprengen sie sich, peng, den Weg einfach frei. Mit Zugseilen und Ochsenkarren muss der Wagen immer wieder über steile Hänge und durch Wüstensand gezogen werden. Eine kräftezehrende Schinderei für Mensch und Technik. Dazu die regelmäßigen Pannen und Reparaturen.

Die häreste Bewährungsprobe ist Südamerika

In Moskau, das sie nach knapp einem halben Jahr erreichen, sind die Männer von den Anstrengungen mehr erschöpft als Stinnes. Der erste Techniker gibt auf, kurze Zeit später, in Sibirien, der zweite. Der verheiratete Söderström und die alleinstehende Stinnes sind nun allein auf sich gestellt. Söderström, anfänglich noch skeptisch, begeistert sich zunehmend für das Projekt und steht nun voll hinter Stinnes. Sein umfangreiches Foto- und Filmmaterial ist auch heute noch ein beeindruckendes Zeugnis dieses Abenteuers.

Die härteste Bewährungsprobe erleben die beiden in Südamerika, wo sie, um nicht zu verdursten, das Kühlwasser trinken und auf der Suche nach Hilfe vier Tage lang völlig entkräftet durch die peruanischen Anden stolpern und erst nach 50 Kilometer Fußmarsch eine Hacienda erreichen. Söderström erkrankt schwer. Stinnes päppelt ihn mit Tee aus Kokablättern auf. Was danach in den USA folgt, gleicht dagegen einer gemütlichen Spazierfahrt. Am 14. Juni 1929 rollen sie schließlich über die berühmte Rennstrecke in Berlin, die Avus, werden gefeiert und bejubelt. Fast logisch, dass nach so vielen gemeisterten Herausforderungen die Abenteurer fortan auch privat an einem Strang ziehen wollen. Söderstrom lässt sich scheiden, 1930 heiratet das Paar. In Schweden bewirtschaften die beiden ein Gut, bekommen drei Kinder. Rennen fährt Stinnes nie wieder, die Lust am Fahren behält sie lebenslang. 1990 stirbt sie im Alter von 89 Jahren.