Foto: dpa

Autistische Schüler sollen die Schule besuchen, die ihrem Leistungsvermögen entspricht.

Stuttgart/Leonberg - Autistische Schüler besuchen die Schule, die ihrem Leistungsvermögen entspricht - so verspricht es eine Handreichung des Kultusministeriums. In der Wirklichkeit sieht das allerdings häufig anders aus, klagen Betroffene und ihre Eltern.

Auf dem Stundenplan steht Geometrie. Welche Eigenschaften hat ein Parallelogramm?, fragt Lehrer Tobias Benzinger. Keine Antwort, stattdessen zeigen die fünf Schüler auf Buchstaben auf einem Holzbrett, die wie auf einer Schreibmaschine angeordnet sind. Nach zwei Minuten geben die Erwachsenen neben ihnen das wieder, was sie mitgelesen haben: Dass die gegenüberliegenden Seiten gleich lang und parallel sind. Auch eine zweite Eigenschaft - dass die gegenüberliegenden Winkel jeweils gleich groß sind - haben alle erkannt. Dann berechnen sie Umfang und Fläche.

An der Karl-Georg-Haldenwang-Schule in Leonberg lernen die fünf Schüler zwar denselben Stoff wie Schüler an Haupt- und Realschulen, allerdings mit anderen Mitteln. Um sich verständlich zu machen, sind sie zum Beispiel auf das sogenannte Schwätzbrett angewiesen. Und auf Personen, die ihnen zur Seite stehen: die beim Tippen ihren Arm stützen und das vorlesen, was sie angezeigt haben. Die dem Lehrer signalisieren, dass ein Schüler nicht mitkommt, und diesen beruhigen, wenn er immer wieder aufspringt. Denn die fünf Schüler können nicht sprechen und haben Schwierigkeiten, ihre Bewegungen zu koordinieren. Sie alle leiden unter frühkindlichem Autismus.

Häufig fehlen Förderangebote

Eigentlich ist die Haldenwang-Schule, eine Schule für geistig behinderte Schüler, gar nicht die richtige Schule für die fünf Jugendlichen. Denn sie sind nicht geistig behindert. Mit ihren kognitiven Fähigkeiten könnten sie auch eine Regelschule besuchen. Aber sie haben derzeit keine Alternative. Damit sie dennoch möglichst viel lernen, erhalten sie täglich zwei Stunden Extraunterricht. Audrey wird in diesem Schuljahr die Hauptschulprüfung ablegen.

Die autistischen Schüler in Leonberg sind keine Einzelfälle. Die Reutlinger Wissenschaftler Rainer Trost und Hartmut Sautter haben in einer Studie festgestellt, dass in Baden-Württemberg 79 Prozent der Schüler mit frühkindlichem Autismus eine Schule für geistig Behinderte besuchen - obwohl sie teilweise Abschlüsse bis hin zum Abi schaffen könnten. Bis die Erkrankung erkannt ist, verstreicht oft wertvolle Zeit. Und häufig fehlen Förderangebote.

Was die Diagnose so schwierig macht, ist etwa fehlendes Wissen über die Erkrankung, die in unterschiedlicher Schwere und in vielen Ausprägungen auftreten kann. Da ist der siebenjährige Max, der sehr aufgeweckt ist und überdurchschnittlich gut rechnet, sein Gegenüber aber nie ansieht und nicht gleichzeitig reden und etwas tun kann. Die neunjährige Petra, die nicht sprechen kann und heftig reagiert, wenn sie ihren Willen nicht bekommt. Auch die 13-jährige Larissa kann nicht sprechen, kann sich aber dank gestützter Kommunikation mitteilen und besucht eine Realschule.

Ein Schritt in die Freiheit

"Viele, die professionell mit Kindern zu tun haben, wissen zu wenig über Autismus", sagt Schulleiter Berthold Halter. Er und seine Kollegen in Leonberg gelten als Pioniere in diesem Bereich. "Autismus ist nicht nur ein Thema für Sonderschulpädagogen. Lehrer aller Schularten müssen sich mit diesem Thema befassen", fordert Halter. Damit Schüler tatsächlich ihrem Leistungsvermögen entsprechend lernen könnten, müssten mehr von ihnen Grund-, Haupt-, Realschulen und Gymnasien besuchen. Und Lehrer dieser Schularten an Sonderschulen unterrichten.

Wissenschaftler Trost schätzt die Zahl der autistischen Schüler im Südwesten auf über 2000. Er geht davon aus, dass auf je 10.000 Schüler 14 bis 15 mit Störungen aus dem autistischen Spektrum kommen. Asperger-Autisten führen oft ein relativ normales Leben und erleben sich selbst meist nicht als krank. Andere sind auf umfassende Unterstützung angewiesen. Manche können tatsächlich nicht erkennen, was ihr Gegenüber denkt, beabsichtigt, durch seine Mimik und Gestik ausdrückt. Andere können das zwar verstehen, sind aber nicht in der Lage, es mit ihrem Körper, ihrer Mimik und Gestik auszudrücken. Da sind Missverständnisse vorprogrammiert - häufig werden sie als geistig behindert eingestuft.

Oft werde das Verhalten von Autisten mit negativen Eigenschaften wie unsensibel, unkooperativ, stur, inflexibel und exzentrisch beschrieben, kritisierte die Pharmakologin und autistische Autorin Nicole Schuster kürzlich bei einer Fachtagung in Bad Boll. "Selten hört man, sie seien selbstbestimmt, eigendynamisch, hartnäckig, zuverlässig und geradlinig. Es werden Stärken ausgeblendet und Schwächen überbetont."

Ein Schritt in die Freiheit

Welche Entwicklungsmöglichkeiten autistische Kinder haben, hängt nicht nur von ihrer individuellen Störung ab, sondern auch davon, wie damit umgegangen wird. Über die richtige Methode sind sich die Experten nicht einig. Viele - auch die Haldenwang-Schule - setzen auf die von der australischen Pädagogin Rosemary Crossley vor über 30 Jahren entwickelte gestützte Kommunikation. Dabei gibt eine Begleitperson physische Unterstützung an Hand, Unterarm, Ellbogen oder Schulter, so dass das Zeigen auf Buchstaben möglich wird. Durch die körperliche Stütze - so eine Erklärung - werden neuromotorische Probleme verringert und funktionale Bewegungsmuster trainiert. Gegner der Methode behaupten, die Stützer gäben nicht Wissen und Gedanken der Schüler wieder, sondern ihre eigenen.

"Damit das nicht passiert, müssen die Schulbegleiter gut auf ihre Aufgabe vorbereitet werden", fordert Lehrer Bruno Tieck, der an der Haldenwang-Schule unterrichtet und seit Jahren nach Wegen sucht, autistische Kinder bestmöglichst zu fördern. Mit Kollegen hat er eine Handreichung für das Kultusministerium verfasst. Doch dieses hat in der 2009 veröffentlichten Fassung einen wichtigen Teil gestrichen: die Aussagen zur gestützten Kommunikation. Dadurch bleibt es für viele Betroffene weiter schwierig, Hilfe zu erhalten. In der Extra-Gruppe der Haldenwang-Schule bekamen nur zwei der fünf Schüler einen Schulbegleiter genehmigt. Audrey hätte bereits 2009 einen Hauptschulabschluss machen können, aber die Behörden lehnten eine Begleitung ab. Jetzt hilft ihr eine Sozialpraktikantin.

Die Sozial- und Jugendämter, die den Schulbegleiter bezahlen müssen, argumentieren, dass es an den Sonderschulen ja kleine Klassen und individuelle Förderung gebe, berichtet Lehrerin Sibylle Rehm-Haug, die Schüler, Eltern und Behörden berät. Von den rund 40 Schulbegleitern - meist Erzieherinnen und Sozialpädagoginnen -, die die Arbeiterwohlfahrt in Böblingen ausgebildet und eingestellt hat, sind die meisten an Regelschulen eingesetzt, sagt Geschäftsführer Thomas Brenner. Doch auch dort müssen Eltern die Hilfe oft einklagen.

Einige Regelschulen wehren ab, wenn sie autistische Schüler aufnehmen sollen. Sie hätten bereits genug Probleme, bekommen Autismusbeauftragte immer wieder zu hören. Manche Lehrer befürchten auch Kontrolle durch einen Erwachsenen im Klassenzimmer. Doch es geht auch anders. Beate F. begleitet seit sieben Jahren den autistischen Felix (Namen geändert), der eine Realschule besucht. "Wichtig ist dabei, dass alle einbezogen werden", sagt sie. Seitdem sie Lehrer, Mitschüler und Eltern über die Störung von Felix informiert hat, redet keiner mehr von Ungerechtigkeit, wenn er die Klassenarbeiten im Nebenraum schreibt und doppelt so viel Zeit dafür hat. Inzwischen geht er nicht mehr mit ihr, sondern mit Klassenkameraden in die Pause. Ein Schritt in die Freiheit.