Delia Grünzweigs Arbeit ist das Dokument eines düsteren Kapitels der Geschichte, aber auch ein Appell in der heutigen Zeit. Foto: Ines Rudel

Für ihre Seminararbeit über das Schicksal der Juden in Kirchheim nach 1933 wird die 17 Jahre alte Abiturientin Delia Grünzweig an diesem Dienstag mit dem Jenny-Heymann-Preis ausgezeichnet.

Kirchheim - Sie gehörten dazu. Ganz selbstverständlich. Im Alltag, im Geschäftsleben, im Vereinsleben. Die 1930 gemeldeten 37 jüdischen Einwohner und Mitbürger in Kirchheim und in der direkten Umgebung. Wie der Viehhändler Jakob Reutlinger, der Textilunternehmer Emil Salmon, der als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg einen Arm verloren hatte, wie Kurt Vollweiler, der als Torwart für den VfB Kirchheim Fußball spielte, Wilhelm Weißburger, der die Christin Maria Ehni heiratete oder die Familie von Philipp und Gerda Bernstein.

Deutsche Bürger, integriert und geschätzt – Nachbarn, Schwaben, die schwäbisch schwätzten. Bis am 30. Januar 1933 Adolf Hitler und die Nationalsozialisten die Macht ergriffen und die angekündigte Vernichtung der Juden ihren Anfang nahm. „Noch nie hat eine Regierung so grauenvoll, so zerstörerisch und gnadenlos die einzige Minderheit versucht auszulöschen“, konstatiert Delia Grünzweig. Die 17-Jährige ist Schülerin des Ludwig-Uhland-Gymnasiums und hat für die Seminararbeit im Kurs „Geschichte im Raum Kirchheim/Teck“ die Frage gestellt, wie sich die Bevölkerung zum NS-Terror und zu Verfolgung und Auslöschung der Juden verhalten hat. Das Fazit ihrer Recherche „Zwischen Ignoranz und Widerstand“ ist der Titel der Arbeit, die der Autorin nach der höchsten schulischen Punktzahl auch die Auszeichnung mit dem Jenny-Heymann-Preis bringt, der ihr an diesem Dienstag in Stuttgart verliehen wird.

Von Anfang an „Hochburg der Nazis“

Mit diesem Kapitel deutscher Geschichte – ausführlich in der 9. und dann wieder in der 12. Klasse im Unterricht behandelt – ist Delia Grünzweig bestens vertraut. Mehr noch: interessiert, berührt, intellektuell und emotional. Ihre Familie ist seit Jahrhunderten in Bissingen ansässig. Die Ahnenforschung reiche bis ins Jahr 1650 zurück, erzählt sie. Jüdische Vorfahren seien, was der schöne Name Grünzweig vermuten lassen könnte, nicht zu finden. Antworten auf ihre Fragen konnte sie freilich in der Familie nicht bekommen: „Die Großeltern haben die Zeit nicht mehr erlebt.“ Und statt Überlieferung herrschte in der Familie vermutlich, wie fast überall, Schweigen. Denn der Ort am Fuße der Alb war keine heile Welt, sondern offenbar längst kontaminiert von der nationalsozialistischen Ideologie: „Schon 1924 hat die NSDAP hier mehr als vier Prozent Stimmen bekommen“, hat die Autorin herausgefunden.

Die Bestätigung folgte bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933: Die Partei verfehlte mit 49 Prozent der Stimmen nur knapp die absolute Mehrheit, während in ganz Deutschland ein Durchschnitt von 42 Prozent erreicht wurde. „Kirchheim und Umgebung galten von Anfang an als Hochburg der Nazis“, konstatiert sie.

In der Lokalzeitung, dem Teckboten, wird schon am 1. April 1933 zum Boykott aufgerufen: „Meidet jüdische Geschäfte!“. Gauleiter Wilhelm wird am 26. Oktober 1936 mit der Drohung zitiert: „Wir sehen im Juden den tödlichsten Feind unserer Rasse und werden uns danach richten.“ Und am 6. Dezember 1938 erscheint der Aufruf zur „planmäßigen Entjudung der deutschen Wirtschaft“. Der Viehhändler Jakob Reutlinger ist nach neuer Sprachregelung in der NS-Zeitung Flammenzeichen nur noch der Jud Reutlinger, seine Tochter Renate, die 1938 in die erste Klasse ging, wurde im November aus der Schule geworfen und musste fortan mit dem Bus in die jüdische Schule nach Göppingen fahren. Albert Salmon und Kurt Vollweiler flogen prompt aus dem Verein, und die Ehe von Wilhelm Weißburger mit der Christin Marie Ehni galt nach den Nürnberger Gesetzen „zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ von 1935 als nichtig. Die junge Bissingerin macht diese Schicksale durch persönliche Geschichten lebendig.

Kontakte zu den Überlebenden

Und wie verhielten sich die christlichen Kirchheimer? „Tatenlos“, stellt die Autorin lapidar fest. Sie lässt das aber nicht undifferenziert stehen: „Die Angst, selbst in Gefahr zu geraten, sowie Hilflosigkeit lassen sich aus vielen Zeugenaussagen heraushören.“ Kirchheim und seine Menschen, so macht die Autorin klar, unterscheiden sich damit nicht von allen anderen Gemeinwesen im NS-Staat. Widerstand habe es praktisch kaum gegeben. Ausgenommen die Priester Otto Mörike und Julius von Jan, die ihren Mut mit Gefängnis und Folter bezahlten.

Es ist nicht so, dass Delia Grünzweig hier Enthüllungsarbeit leisten musste. Die Vergangenheit ist auch hier längst aufgearbeitet – in Archiven, Bibliotheken und dem Online-Archiv des Teckboten fand Delia Grünzweig reichlich Quellen. Und in Brigitte Kneher eine wichtige Informantin. Die Kirchheimerin hat die Geschichte der Juden in ihrer Heimatgemeinde aufgearbeitet und dafür Kontakte zu den Überlebenden im Exil wie Manfred Salmon und Kurt Vollweiler und ihren Nachkommen gepflegt.

Sie hat der Schülerin erzählt, wie sie selbst als kleines Mädchen auf der Straße eine jüdische Bekannte grüßen wollte und von der Mutter daran gehindert wurde. Von ihr weiß Delia Grünzweig auch, dass Kurt Vollweiler mit zehn Mark in der Tasche die rettende Flucht nach Amerika gelang. Renate Reutlinger, die sich als kleines Mädchen verzweifelt fragte, was sie wohl diesem Hitler getan hätte, erlebte mit 936 anderen Juden an Bord 1939 die Irrfahrt der St. Louis, die weder Kuba noch ein anderes Land anlegen ließ, bis Antwerpen den rettenden Hafen bot.

Appell in der heutigen Zeit

Im Jahr 1941 begannen auf dem Stuttgarter Killesberg und am Nordbahnhof die Deportationen, 14 Kirchheimer Juden wurden ermordet. Einer von ihnen war Wilhelm Weißburger, dessen Witwe Marie aus Auschwitz erfuhr, dass ihr Mann an einer Lungenentzündung gestorben sei. Aus dem Exil kehrte keiner zurück. Heute lebt laut Delia Grünzweig kein Jude mehr in Kirchheim.

Die zunehmenden rechtsradikalen und antisemitischen Strömungen machen Delia Grünzweig Angst. Umso mehr, als sie bei einer Umfrage bei Gleichaltrigen viel Unwissenheit und Indifferenz festgestellt habe. „Den Schülern fehlt nicht das Wissen, das liefert der Unterricht“, betont ihre Lehrerin Katrin Wieland-Wurz, die die Seminararbeit betreut hat. „Die Sensibilität hat abgenommen, es geht ihnen nicht mehr unter die Haut“, urteilt die Pädagogin. Delia Grünzweig sieht daher ihre Arbeit auch als Appell: „So etwas dürfen wir Deutsche nie wieder zulassen.“

Eine Ikone der Versöhnung

Jenny Heymann
1880 wird Jenny Heymann als Tochter des jüdischen Bankiers und seiner Frau Helene in Stuttgart geboren. Sie ist Schülerin des Königin-Katharina-Stiftes und besucht anschließend das Lehrerinnenseminar. Nach einem Studium der Neueren Philologie in Tübingen und Hamburg wird sie Studienrätin in Ludwigsburg. 1933 wird sie als Jüdin aus dem Amt „entfernt“, 1939 emigriert sie nach England. 1947 kehrt Jenny Heymann aus London zurück und unterrichtet von 1953 an im Stuttgarter Hölderlin-Gymnasium. 1956 übernimmt sie die Geschäftsführung der neu gegründeten Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit (GCJZ). 1991 wird sie mit der Otto-Hirsch-Medaille ausgezeichnet. 1996 stirbt Jenny Heymann im Alter von 105 Jahren.

Preis
Mit dem nach ihr benannten Preis würdigt die GCJZ Schüler-Arbeiten, die für Dialogbereitschaft und Toleranz stehen.

Preisträger
Mit dem Preis wird neben Delia Grünzweig unter anderem Christina Kautzmann vom Albertus-Magnus-Gymnasium in Stuttgart ausgezeichnet. Sie erhält einen Sonderpreis für eine Arbeit über Jenny Heymanns Brief an ihre ehemalige Schülerin Ilse Witty.

Preisverleihung
Die Preise werden an diesem Dienstag, 10. März, um 19 Uhr, im Stuttgarter Mädchengymnasium St. Agnes, Gymnasiumstraße 45, verliehen.