Devid Striesow als Hape Kerkeling in der Filmkomödie „Ich bin dann mal weg“ aus dem Jahr 2015. Foto: Warner/Verleih

Freie Natur statt heimelige Coach, klare Bergluft statt Abgasen im Stau. Von solch Erlebnissen fernab von Sorgen und Stress träumen viele zivilisationsgeplagte Städter. Einige wenige leben ihren Traum, eine Zeit lang – und manche sogar viele Jahre.

Stuttgart - Nach einem anstrengenden Aufstieg auf dem Gipfel hocken, irgendwo in den Alpen. Den Aufgang der Sonne am Firmament begrüßen. Das Tal zu Füßen, eingehüllt in dichte, wabernde Nebelschwaden. Allein mit sich und der Natur. Ganz alleine? Nicht ganz. Wie es sich für den technikaffinen und achtsamen Wanderer gehört, liegt das Handy immer griffbereit im Rucksack.

Freie Natur statt TV-Serien auf der heimischen Coach, klare Bergluft statt Autoabgasen im Stau auf dem Weg zur Arbeit: Von solch unvergesslichen Erlebnissen fernab von Sorgen und Stress träumen viele zivilisationsgeplagte Städter. Einige wenige leben ihren Traum, eine Zeit lang – und manche sogar viele Jahre.

Auch Natur-Romantik hat Grenzen

Aber mal ehrlich: Nur weil man die Natur und Stille liebt, gerne wandert und der Großstadt mit ihrer Hektik und ihrem Lärm mal entfliehen will, soll man die gemütliche Wohnung gegen ein enges Zelt und das geräumige Haus gegen eine selbst gebastelte Jurte tauschen? Ohne Dusche und heißes Wasser, die Toilette im nächsten Gebüsch, das Waschbecken im Bach?

Die meisten würden diese sich selbst auferlegte Askese kaum ein paar Tage ertragen, geschweige denn Wochen, Monate oder Jahre. Die Natur-Romantik hört spätestens dann auf, wenn die Temperaturen unter null Grad sinken und es tagelang wie aus Eimern schüttet.

Aussteigertum ist sehr selten

Peter Wippermann, Trendforscher aus Hamburg, sieht in dem radikalen Ausstieg aus dem Hamsterrad von Job und Karriere einen Extremfall – allerdings einen, der für den Wunsch vieler steht: „Die Idee, die digitale Welt zu verlassen als Gegenpol zur Vernetzung des Alltags ist zwar ein Grundtrend.“ Aussteigertum sei in Deutschland aber sehr selten: „Das sehe ich nicht als gesellschaftliches Phänomen.“

Zahlen über Aussteiger gibt es nicht. Der Freiburger Outdoor-Trainer Daniel Seifried schätzt, dass nur zwischen zehn und 50 Menschen ein solches alternatives Leben führen. Viele seien zwar gern ein paar Tage draußen, freuten sich dann aber auf einen vollen Kühlschrank und das eigene Bett. „Ganz auszusteigen trauen sich die meisten nicht – und es ist auch nicht einfach.“

„Into the Wild“

Geschichten wie die von Maria Anna Leenen, Jürgen Wagner, Marc Freukes und Hans Anthon Wagner erinnern an die Freiheitssuche bekannter Aussteiger – wie Christopher McCandless.

Christopher McCandless’ Leben wurde 2007 unter dem Titel „Into The Wild“ nach der gleichnamigen Reportage des US-Journalisten Jon Krakauer verfilmt. Der junge Mann entschied sich Anfang der 1990er Jahre für ein Leben in der Wildnis. Bei ihm nahm das Abenteuer ein tragisches Ende: McCandless starb nach zwei Jahren in der Wildnis, abgemagert, einsam und entkräftet. Sein Leichnam wurde Ende 1992 von Elchjägern auf dem Weg entlang des Stampede Trail in Alaska gefunden.

Der Zauber eines Lebens in freier Natur hat in der Geschichte immer wieder Menschen erfasst, die das Alleinsein der Gemeinschaft vorzogen. Dass Aussteiger und Eremiten den gängigen gesellschaftlichen Normen entsagen und aus religiösen, sozialen oder ökologischen Gründen der Zivilisation – mehr oder weniger – entfliehen, gehört zu ihrem Lebenskonzept.

Eine Existenz am Rande oder gar ganz abseits der Gesellschaft ist nichts für Weicheier. Dafür härtet das Leben draußen ab und macht immun gegen die üblichen Wehwehchen.

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Faszinierende Geschichte des abendländischen Eremitentums

Betrachtet man solche Biografien ohne Neid und Häme, sieht man sich unversehens in die faszinierende Historie des abendländischen Eremiten- und Mönchtums versetzt. Jener ursprünglichen christlichen Lebensform, die ihren Ausgang bei den Wüstenvätern nahm. Seit dem späten dritten Jahrhundert führten Mönche alleine oder in kleinen Gruppen ein zurückgezogenes Leben der Askese, des Gebetes und der Arbeit in den Wüsten Ägyptens und Syriens.

Ihr Protagonist war Antonius der Große (um 251–356 n. Chr.), ein ägyptischer Einsiedler, der auch Antonius Abbas – „Vater der Mönche“ – genannt wird. Der später heiliggesprochene Theologe gründete die ersten Gemeinschaften christlicher Anachoreten – lose Zusammenschlüsse getrennt lebender Einsiedler, die sich aus religiösen Gründen aus der Gesellschaft zurückzogen.

Pachomios der Große (um 292–346), ein weiterer ägyptischer Eremit, erbaute Anfang des vierten Jahrhunderts in Oberägypten die ersten von Mauern umschlossenen Klöster, in denen Einsiedler als kleine Gemeinschaften nach festen Regeln lebten und arbeiteten.

Benedikt, Franziskus, Niklaus von der Flüe, Thomas Merton

Große Gestalten finden sich unter diesen Eremiten: Benedikt von Nursia (um 480– 547) und Franz von Assisi (1181–1226), die Gründer der Orden der Benediktiner und Franziskaner; Niklaus von der Flüe (1417– 1487), Schutzpatron der Schweiz; und Thomas Merton (1915–1968), ein französischer Trappisten-Mönch, Dichter und geistlicher Schriftsteller.

Von Thomas Merton stammt der Satz: „Was nützt es uns, zum Mond reisen zu können, wenn es uns nicht gelingt, den Abgrund zu überwinden, der uns von uns selbst trennt? Dies ist die wichtigste aller Entdeckungsreisen; ohne sie sind alle anderen nicht nur nutzlos, sondern zerstörerisch.“

In Deutschland gibt es nach Aussage von Maria Anna Leenen, einer katholischen Eremitin im Osnabrücker Land, schätzungsweise 80 bis 90 Christen, welche die uralte Berufungsform des Eremitentums leben. Dass diese Gottsucher nicht nur eine radikale Berufung in sich spüren und Stunden beim Gebet verbringen, sondern auch eine überdurchschnittlich stabile Psyche mitbringen müssen, versteht sich von selbst. Schließlich ist es eine besondere Herausforderung, ohne Fernseher, Radio und andere Annehmlichkeiten auszukommen – vom mitunter wochenlangen Alleinsein ganz abgesehen.

Erneuerung des eremitischen Lebens in der katholischen Kirche

Marianne Schlosser, katholische Professorin für Theologie der Spiritualität an der Universität Wien, sieht in der Kirche ein „gesteigertes Interesse an der Einsamkeit, das zu einer Erneuerung eremitischen Lebens“ führe. Schlosser berichtet von „leibhaftigen Eremiten“, die sie kenne und die alles andere als sonderbar, weltfremd und menschenscheu seien.

Sie lebten „mitten in Berlin oder auf einer Almhütte, in einem leerstehenden Pfarrhaus oder in einem Baucontainer“. Ihren Lebensunterhalt verdienten sie mit Handarbeit, als Mesner oder Übersetzer. Es gebe sie im Habit der Ordensleute und in Jeans, „in ihrer Gemeinde und darüber hinaus bekannt“ oder „inkognito“.

Man muss nicht gleich wie der griechische Philosoph Diogenes von Sinope (405–320 v. Chr.) in einem tönernen Vorratsgefäß leben oder wie Symeon Stylites der Ältere (389–459 n. Chr.) zum Zeichen der Entsagung auf dem Kapitell einer Säule stehen (daher der Name Säulenheiliger). Es genügt, das aufzugeben, was bisher im Leben wichtig erschien: Arbeit, Wohnort, Freundeskreis, Glaubensgemeinschaft, politische Überzeugungen.

Zurück in die Natur – „Walden oder Leben in den Wäldern“

Die Gründe für einen Ausstieg müssen nicht religiöser Natur sein: Der eine will sein altes, als stressig empfundenes Leben hinter sich lassen. Der andere sucht in der Natur oder in der Anonymität der Großstadt nach Antworten auf existenzielle Fragen. Ein Dritter träumt von einer gerechteren, friedlicheren Welt und lehnt vehement den Kapitalismus ab, der die Menschen entfremde und die gesellschaftlichen Gruppen gegeneinander ausspiele.

Beispiele für moderne Aussteiger – die als Single oder in Gruppen leben – sind Alternativbewegungen wie die Hippies oder die New-Age-Bewegung.

Das 1854 erschienene Buch „Walden Or Life In The Woods“ (Walden oder Leben in den Wäldern) des amerikanischen Dichters, Philosophen und Lehrers Henry David Thoreau (1817–1862) gilt als Klassiker des einfachen, naturbezogenen Lebens, das auch Mahatma Gandhi zu seinem Ideal des gewaltfreien Widerstandes inspirierte.

In ihm schildert Thoreau sein Leben in einer selbst gebauten Blockhütte in den Wäldern Massachusetts. Mehr als zwei Jahre kehrte er der Zivilisation den Rücken – nicht aus naiver Weltflucht, sondern um alternativ, asketisch und naturnah zu leben. „Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde.“

Was Aussteiger eigentlich suchen

Aussteiger glauben, nur durch einen radikalen Wandel ihres Lebens ihr persönliches Gleichgewicht und ihre innere Ruhe wiederzufinden. Dabei bedeutet Alleinsein nicht gleich Einsamkeit. Nicht erst die heutige Psychologie hat den Wert der Stille und des Ganz-bei-sich-Seins als Hort der Zufriedenheit und des Glücks wiederentdeckt.

Alleinsein ist nicht nur ein Zustand, sondern auch eine Fähigkeit, die Nicht-Aussteiger genauso erwerben können, um den inneren Reichtum der Seele und den äußeren Reichtum der Natur erleben zu können.

Wer nie gelernt hat, zur Ruhe zu kommen und Zeit mit sich selbst zu verbringen, wird es ohne Ablenkung durch Fernsehen, Handy, Internet und soziale Netzwerke nicht lange aushalten. Für viele steht die Zeit nie still: Über E-Mail und Smartphone sind sie rund um die Uhr erreichbar – und wollen es oft auch nicht anders, weil die emotionale Einsamkeit und Stille sonst unerträglich wären.

Verlust der „Schweigekultur

„All unser Übel kommt daher, dass wir nicht allein sein können“, stellte der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer (1788– 1860) fest. Mehr als ein Jahrhundert später beklagte der französische Philosoph und Psychologe Michel Foucault (1926–1984) den Verlust der „Schweigekultur“. Doch man muss nicht gleich alle Brocken hinwerfen und in einem Erdloch im Wald leben, um zu sich selbst zu finden. Es genügt schon, jenseits des alltäglichen Geplappers und Lärmens das Schweigen und die Stille als bereichernde Momente wiederzuentdecken.