Der Finanzbürgermeister nennt die Steuerkurve „Sindelfinger Fieberkurve“. Ihr Auslöser ist das Mercedes-Werk. Foto: factum/Andreas Weise

Der Finanzbürgermeister muss in diesem Jahr mit 100 Millionen Euro weniger auskommen als im vergangenen. Die Ursache sind der Dieselskandal und die jüngste Verlustmeldung des Daimler-Konzerns. Der Einbruch ist keineswegs der erste.

Sindelfingen - Ob früher schon einmal alles schlechter war, bleibt Ansichtssache. Die Stadträte starren auf die Projektion an der Wand. Sie zeigt „die berühmte Sindelfinger Fieberkurve“, wie der Finanzbürgermeister Christian Gangl sagt. So gesehen, symbolisiert das Zickzack mit heftigen Ausschlägen einen Patienten, der seit Jahrzehnten zwischen Überhitzung und dem Kältetod pendelt. Zurzeit leidet er wieder einmal an Erfrierungen. Seit der Jahresmitte ist die Kurve nahezu senkrecht abgestürzt. Sie verbildlicht die Gewerbesteuereinnahmen.

Niemand spricht den Namen aus, aber der Verursacher des Aufs wie des Abs ist Daimler. Der Konzern hat im ersten Halbjahr zweimal seine Gewinnerwartung gesenkt und zuletzt sein erstes Verlustquartal seit zehn Jahren verkündet. Beide Einbrüche kosteten die Stadt Sindelfingen etwa 20 Millionen Euro Steuereinnahmen. Die Autobauer hatten Geld beiseitegelegt, um zu erwartende Strafen für den Dieselskandal zu zahlen. Zu Recht: Exakt zwei Stunden vor dem Beginn der Ratssitzung gab die Staatsanwaltschaft in Stuttgart bekannt, dass sie gegen Daimler eine Geldbuße von 870 Millionen Euro verhängt habe. Eine solche Summe hatten die Konzernlenker offenbar erwartet. Laut Gangl wird sie keinen weiteren Einbruch für die Stadtkasse zur Folge haben.

Die Sindelfinger Fieberkurve folgt eins zu eins der Gewinnkurve von Daimler

Die Sindelfinger Fieberkurve folgt eins zu eins der Gewinnkurve von Daimler. Jetzt gilt in der Stadt eine Ausgabensperre. Der Gemeinderat hat sie schon im Juni beschlossen – keineswegs zum ersten Mal. Einbrüche hat es seit den 1980er Jahren immer wieder gegeben. 2009 sind die Einnahmen sogar zu Ausgaben geworden, weil die Stadt dem Konzern mehr Gewerbesteuer zurückzahlen musste, als sie insgesamt eingenommen hatte.

Ungeachtet dessen nennt der Finanzbürgermeister den aktuellen Absturz „dramatisch, das ist der stärkste Einbruch überhaupt“, denn er erfolgte aus einer historischen Höhe. 2017 und 2018 waren finanzielle Rekordjahre. Bleibt es bei der jüngsten Vorhersage, kann die Stadt in diesem Jahr 40 Millionen Euro Gewerbesteuer ausgeben, 1000 Millionen weniger als im Jahr zuvor.

Im Januar hatte der Oberbürgermeister noch Rekordausgaben angekündigt

Die Differenz gibt einen Ausblick darauf, was Sindelfingen, was alle Autoregionen erwartet, sofern die Branche dauerhaft darbt. Unter dem Eindruck der Rekordeinnahmen hatte Oberbürgermeister Bernd Vöhringer im Januar die Presse eingeladen, um Rekordausgaben anzukündigen: Für mehr als 25 Millionen Euro sollte die Sanierung der zusammengeflickten Marktplatz-Tiefgarage beginnen. Vier Millionen waren zusätzlich reserviert, um den Marktplatz neu zu pflastern. 35 Millionen Euro hatte Vöhringer gedanklich für ein Prestigeobjekt zurückgelegt: den Ausbau des Badezentrums zum attraktivsten in der gesamten Region. Diese wie alle anderen Projekte müssen nun ohne Schummelsoftware auf den Prüfstand.

Der Finanzbürgermeister empfiehlt dem Gemeinderat „eine Vollbremsung“. Manchen Kommunalpolitikern erscheint es als ausreichend, den Gasfuß ein wenig zu heben. „Dass wir ganz radikale Sparmaßnahmen mittragen, glaube ich nicht“, sagte Sabine Kober für die Grünen, der Gangls Zahlen grundsätzlich missfielen: „Die Benennung des Defizits von 100 Millionen Euro finde ich nicht richtig.“ Für die Freien Wähler kündigte Ingrid Balzer an, dass ihre Fraktion ebenfalls „einen moderaten Sparkurs mittragen“ werde, „aber nicht alles“. Der Linke Richard Pitterle appellierte an die Bundesregierung, die Gesetze zu ändern, damit Unternehmen Geldstrafen künftig nicht mehr von der Steuerschuld abziehen können.

Sparpläne müssen in aller Eile fertig werden

Was mitzutragen oder nicht mitzutragen wäre, ist noch völlig offen. In aller Eile wird die Stadtverwaltung in den nächsten Wochen Vorschläge erarbeiten, welche Pläne trotz allem sinnvoll zu verwirklichen sind und welche in die fernere Zukunft verschoben werden können. Am 15. Oktober soll die Liste fertig sein. Tags darauf beginnt die Information der Bürgerschaft, und zwar zunächst mit einer eigenen Veranstaltung für die Vereine. Am 19. November soll der Gemeinderat endgültig entscheiden, welche Einschnitte er den Bürgern zumutet.