Vor dem Tafelladen müssen die Wartenden die coronabedingten Abstandsregeln einhalten. Dadurch bilden sich lange Schlangen vor dem Geschäft. Foto: /Max Kovalenko

Lange Schlangen vor dem Tafelladen an der Hauptstätter Straße erscheinen wie ein Menetekel. Sozialarbeiter und Helfer fürchten eine soziale Krise im Herbst.

S-Mitte - Einige Wochen scheint die Coronapandemie auch jene in eine Schockstarre versetzt zu haben, die auch schon vor dem Ausbruch der Infektionskrankheit in finanzieller Schieflage waren. Reiner Saleth von der Zentralen Schuldnerberatung berichtet, dass er im März und Anfang April weniger als sonst zu tun hatte. Zu jener Zeit spekulierten einige Experten in den Medien bereits über eine drohende Wirtschaftskrise in den Ausmaßen der 30er Jahre. „Das war schon merkwürdig“, sagt Saleth.

Mittlerweile habe er zwar deutlich mehr zu tun. Eine Bestätigung für apokalyptische Erwartungen zu Beginn der Pandemie liefert Saleth aber nicht. „Wir arbeiten eigentlich immer am Anschlag. Da ist der Unterschied nicht so groß“, sagt er.

Gespräche drehen sich um Corona

Dennoch rückten Corona und die wirtschaftlichen Folgen nun mehr und mehr in den Fokus der Beratungsgespräche, erklärt Saleth. Er nennt als Beispiel Start-up-Unternehmer, die Kredite bedienen müssen, ohne in den vergangenen Wochen Umsatz generiert zu haben. Im Moment verhinderten die Nothilfen der Regierung viele Privatinsolvenzen, meint der Schuldnerberater. Wegen der Pandemie säumige Mieter können derzeit zum Beispiel nicht einfach auf die Straße gesetzt werden, erklärt Saleth. „Ich fürchte, dass es eine Welle an Betroffenen im Herbst geben wird, wenn Regierungshilfen nicht verlängert werden“, sagt der Schuldnerberater. Dann könnten auch die Kapazitäten seiner unter anderem von der Evangelischen Gesellschaft (eva) und der Caritas getragenen Beratungsstelle erschöpft sein. „Wer sich beraten lassen will, muss sich dann vielleicht auf sehr lange Wartezeiten einstellen“, meint Saleth.

Unklar sei außerdem, wer bei betrieblichen Insolvenzen mit Rat und Tat zur Seite stehen kann. „Unser Angebot richtet sich an Privatpersonen“, sagt Saleth.

Eva´ s Tisch versorgt mehr Klienten

Laura Köhlmann, stellvertretende Sprecherin der evangelischen Gesellschaft, sieht derzeit nur moderate Anzeichen für eine Verschärfung der Armut in Stuttgart. Offene Angebote, bei denen ein warmes Mittagessen erhältlich ist, wie „eva’s Tisch“ an der Büchsenstraße seien Ende März und im April stärker in Anspruch genommen worden, erklärt sie.

Dabei seien auch neue Klienten hinzugekommen, die Mitarbeiter bisher nicht gekannt haben. Sie beschrieben sie allerdings als zum „Armutssektor“ gehörend, schildert Köhlmann. Peter Gerecke, einer der zwei Abteilungsleiter der Dienste für Menschen in Armut bei der eva, fügt hinzu, dass auch er im Herbst mit einem Andrang rechnet. „Im Moment ist das nur eine Vermutung. Aber wir wissen ja nicht, wie es weitergeht mit der Kurzarbeit oder den Mietschuldstundungen“, sagt er.

Schwangere suchen Hilfe

Die Pandemie und die von ihr bedingte Wirtschaftskrise sind auch vermehrt Thema bei der Schwangerenberatung der eva. „Frauen, die jetzt in Kurzarbeit sind oder einen Partner in Kurzarbeit haben, erkundigen sich nach Hilfen“, berichtet die Beraterin Gertrud Höld. Steht ein Schwangerschaftsabbruch bei der Konfliktberatung im Raum, werde die Pandemie oft als weiterer Grund genannt, warum Frauen ein Kind nicht austragen wollen, schildert die Beraterin. „Wenn Frauen ohnehin in einer sozial schwierigen Lage sind, verweisen sie oft auf Corona als zusätzliche Belastung“, sagt Höld. Für die Öffentlichkeit wohl das sichtbarste Zeichen einer wachsenden Armut in Stuttgart sind die langen Schlangen vor dem Tafelladen an der Hauptstätter Straße. Diese sind den Abstandsregeln in der Coronapandemie geschuldet. Denn nur eine begrenzte Anzahl an Klienten darf in dem Geschäft günstige Ware kaufen. Außerdem müssen die Wartenden zu einander 1,5 Meter Abstand halten.

Hilli Pressel, stellvertretende Projektleiterin bei der Stuttgarter Tafel, ist froh, dass ein Weiterbetrieb unter den erschwerten Bedingungen der Pandemie möglich war. „Wir waren sehr kreativ, aber alle Investitionen mussten wir auf Eis legen“, meint sie.

Tafel kann sich nicht vorbereiten

Die Klientel an der Hauptstätter Straße habe sich nach Ausbruch der Krise nicht verändert, betont Pressel. „Aber ich rechne damit, dass sich das im Herbst ändern wird. Wir haben keine Kapazitäten, uns darauf vorzubereiten“, meint sie.

Immerhin habe die Sichtbarkeit der Armut im Stadtzentrum auch einen positiven Effekt: „Wir bekommen wieder viele Spenden, weil die Menschen die langen Schlangen sehen“, sagt Pressel.