Schlechte Aussichten: Jedes fünfte Kind im Südwesten ist von Armut betroffen. Foto: dpa

Die Armut in Deutschland ist ungerecht, aber letztlich politisch gewollt, sagt Wolfgang Sartorius, der Leiter des Sozialunternehmens Erlacher Höhe.

Stuttgart - Die Politik hat den wirtschaftlichen Erfolg der vergangenen zehn Jahre nicht genützt, um für mehr Gerechtigkeit zu sorgen, kritisiert Wolfgang Sartorius, Geschäftsführer des Sozialunternehmens Erlacher Höhe. Die Auswirkungen materieller Ungleichheit seien fatal.

Herr Sartorius, Deutschland ist reich. Warum gibt es hier so viele arme Menschen?

Armut ist immer relativ. Das heißt, man ist nicht arm an sich, sondern ist immer arm im Verhältnis zu anderen. Seit der Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 haben wir in unserem Land einen Dauergast: den Mangel an Gerechtigkeit, der zu wachsender Ungleichheit führt. Wir lassen es zu, dass sich alte, einkommensarme Menschen keine Brille leisten können, weil Brillen irgendwann aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen gestrichen wurden. Vor allem die Bildungschancen sind in Deutschland sehr ungleich verteilt. 70 Prozent der Kinder von Akademikern studieren, aber nur 20 Prozent der Arbeiterkinder gehen zur Uni. Armut in einem armen Land ist ein Folge des Mangels. Armut in einem reichen Land ist ein Problem mangelnder Gerechtigkeit und in der Konsequenz politisch gewollt, auch wenn Politiker dem Vorwurf regelmäßig widersprechen.

Arm heißt nicht unbedingt „ohne Arbeit“. Für einen einfachen Polizeibeamten mit Frau und zwei Kindern wird es in Stuttgart schwierig, über die Runden zu kommen. Nimmt auch die Zahl an solchen prekären Lebenssituationen zu?

Eindeutig ja. Hauptursache ist ein entfesselter Wohnungsmarkt. Die Mieten sind in den vergangenen Jahren explodiert, ebenso die Grundstücks- und Baukosten. Die Diakonie fordert seit vielen Jahren, das Thema Wohnen als das zu sehen, was es ist: ein Menschenrecht. Menschenrechte gehören aber nicht in die Hände von Märkten, sondern müssen von einem starken Sozialstaat ausgestaltet werden. In Bezug auf das Wohnen heißt das: Es muss genügend sozialer Wohnungsbau stattfinden, damit Mieten im unteren Segment wieder bezahlbar werden.

Es gibt nicht nur viele arme Menschen, auch die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Was bedeutet das für die Gesellschaft?

Unsere Gesellschaft ist gespalten. Ungefähr ein Sechstel der Meschen ist abgehängt. Sie sind die Verlierer der Modernisierung. Unter ihnen sind Leute, denen durch die unbarmherzige Hartz-IV-Gesetzgebung der Ära Schröder Lebenschancen geraubt wurden. Dafür spricht zumindest, dass bei der Landtagswahl 2016 die Wählergruppe der Arbeitslosen Spitzenreiter in Sachen AfD war. Im früher traditionell roten Pforzheim hat ein Viertel aller Wähler die Rechtspopulisten gewählt. Offenbar haben die etablierten Parteien aktuell keine überzeugenden Argumente, um dieser Spaltung entgegenzuwirken.

Was muss die Politik konkret tun, um der Entwicklung entgegenzuwirken?

Der britische Historiker Tony Judt hat konstatiert, dass die Auswirkungen materieller Ungleichheit sich erst nach einiger Zeit zeigen. Der Konkurrenzkampf verschärft sich, Menschen fühlen sich überlegen oder minderwertig, Vorurteile gegenüber den Schwächeren verstärken sich. Nach meiner Überzeugung erleben wir dies im Moment. Deshalb ist die Politik gefordert, für weniger soziale Ungleichheit und damit für weniger politische Spaltung zu sorgen. Das bedeutet zum Beispiel, alle Kinder unabhängig vom Status der Eltern durch eine echte Grundsicherung so zu stellen, dass sie gute Lebenschancen haben. Offen gestanden verstehe ich gerade in diesem Punkt als wertkonservativer Mensch bis heute nicht, weshalb die Politik die Möglichkeiten der vergangenen zehn Jahre, die ja von wirtschaftlichem Erfolg geprägt waren, nicht genützt hat, um für mehr Gerechtigkeit zu sorgen. Am Geld hat es nicht gefehlt. Steuert die Politik nicht entschieden um, wird sich die Spaltung durch Globalisierung, Digitalisierung und, im Kontext des Klimawandels, durch globale Migrationsbewegungen weiter verschärfen.