Das Haus Schminke im sächsischen Löbau wurde von Hans Scharoun entworfen und zählt zu den wichtigsten Wohnhäusern der klassischen Moderne. Foto: dpa/Matthias Hiekel

Die Geschichte des Löbauer „Nudeldampfers“ ist eng mit der Unternehmerfamilie Schminke verbunden. Ein neues Buch und eine Ausstellung fügen weitere Puzzleteile hinzu - und Deutschlands bekanntester Meisterfälscher hat auch mit dem Haus zu tun.

Löbau - Schabernack am Kaffeetisch: Lächelnd füttert ein kleines Mädchen auf der Schwarz-Weiß-Fotografie einen fröhlichen Herrn. Aus der Szene spricht Vertrautheit. Das Bild aus der Zeit um 1935 ist im Haus Schminke aufgenommen. Das 1933 im sächsischen Löbau errichtete Ensemble nach Plänen von Hans Scharoun (1893-1972) zählt zu den weltweit wichtigsten Wohnhäusern der klassischen Moderne. Der Schnappschuss zeigt den Architekten mit Helga, der jüngsten Schminke-Tochter. Die Architekten Julia Jamrozik und Coryn Kempster haben sie für ihr Buchprojekt „Kinder der Moderne“ besucht. Mit einem Wohnmobil reisten sie im Sommer 2015 durch Europa, um berühmte Wohnorte aufzusuchen und Eindrücke jener Kinder einzusammeln, die in avantgardistischen Häusern aufgewachsen sind. Neben der Schminke-Tochter kommt beispielsweise der Philosoph Ernst Tugendhat zu Wort. Seine Erinnerungen führen in die 1930er Jahre in die Villa Tugendhat von Ludwig Mies van der Rohe ins tschechische Brno.

Die Autoren gingen nicht nur der Frage nach, wie man im einem Bau der Moderne aufwächst, sondern auch, wie diese oft andere Umgebung die Menschen prägte. „Die hier vorgelegten Geschichten sollen es Architekturinteressierten ermöglichen, die Einzigartigkeit dieser Gebäude aus einem ganz anderen Blickwinkel zu würdigen“, schreiben sie im Vorwort der jüngst im Birkhäuser-Verlag erschienenen Publikation mit zahlreichen neuen Fotos neben historischem Bildmaterial, Lageplänen und detailreichen Beschreibungen.

Helga Zumpfe, als Unternehmertochter in der Villa Schminke aufgewachsen, nimmt die Leser mit auf eine Reise in eine Zeit, wo sie zu „Professor Scharoun“ - weil sie es nicht aussprechen konnte - „Pfeffer Huhuhun“ sagte. Die Erinnerungen lassen sie schwärmen. „Alles in allem ist es das Leben in dieser Weiträumigkeit, wie wir es in diesem Haus, aber auch dem Garten hatten, was sich besonders tief in meinem Gedächtnis festgesetzt hat.“ 

Der Korpus des Hauses erinnert an ein Schiff

Vater Fritz, Kunstliebhaber und Nudelfabrikant aus der Kleinstadt knapp 100 Kilometer östlich von Dresden, beauftragt 1930 „ein modernes Haus für zwei Eltern, vier Kinder und gelegentlich ein bis zwei Gäste“. Dessen gebogener Korpus mit Terrassen, Außentreppe und runden Bullaugenfenstern erinnert an ein Schiff – und prägt im Volksmund den Begriff „Nudeldampfer“. Jenes Schiff verlässt Helga Zumpfe 1948 erst Richtung Dresden und dann nach Bochum (Nordrhein-Westfalen). Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war ihr einstiges Zuhause russische Militärkommandantur, Erholungsheim für Kinder aus kriegsgeschädigten Dresdner Familien, Klubhaus der FDJ, Kreispionierhaus, Jugend- und Freizeitzentrum, zählt Merte Stork, Mitarbeiterin der Stiftung „Haus Schminke“, auf.

In deren Besitz befindet sich der Löbauer Komplex seit 2009. 1993 verzichteten die Erben der Familie Schminke auf die Rückgabe ihres Elternhauses und ebneten damit den Weg, es als öffentliches Architekturdenkmal nutzbar zu machen. Auch diese Geschichte soll nun im Scharoun-Bau ausgestellt werden.

Der Aufruf nach Geschichten und Exponaten war schon für viele Menschen Anlass, auf Dachböden und in Fotoalben zu kramen. So erreichten es jüngst auch spannende Bilder aus der Zeit von 1951 bis 1963. 1959 leitete ein Mann namens Konrad Kujau (1938-2000) die Einrichtung der Freien Deutschen Jugend (FDJ) - der spätere „Fälscher der Hitlertagebücher“. Mit dem Verkauf der vermeintlich echten Notizen des Führers an das Nachrichtenmagazin „Stern“ landete der gebürtige Löbauer in den 1980er Jahren einen Millionencoup. Der bescherte dem Maler und Kunstfälscher Kujau viel Rampenlicht – und eine Haftstrafe. 

Spannende Einblicke in die Welt der Nachkriegsjahre

Der Fund aus dem Kujau-Nachlass sorgt für Freude bei den Kuratoren. „Die Fotos geben spannende Einblicke in den Zustand des Hauses in den frühen Nachkriegsjahren. Das Interieur war zu dieser Zeit noch so gut wie komplett erhalten. Neben rauschenden Feten mit Live-Kapelle in der Eingangshalle findet sich auf den Bildern auch die Büste von Wilhelm Pieck auf dem später zerstörten Kamin im Wohnzimmer des Hauses“, sagt Stork. Ebenfalls erreicht hat das Haus Schminke auch schon eine Figur, die 1978 zum 15-jährigen Bestehen des „Hauses der Pioniere“ gefertigt wurde.

„Durch seine bewegte Nutzungsgeschichte ist das Haus Schminke nicht nur als Architekturikone zu verstehen, sondern spielt auch in den persönlichen Erinnerungen und Biografien vieler Menschen eine zentrale Rolle“, sagt die Stiftungsmitarbeiterin. Mit Hilfe der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen wurde im Sommer 2020 begonnen, Geschichten, Fotos, Postkarten, Briefe und andere Erinnerungsstücke im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Haus zusammenzutragen - sie sollen künftig Platz im sogenannten Kofferkeller finden.

Der Umbau des neuen Sonderausstellungsbereichs ist fast abgeschlossen. „Dazu wurden die originalen Schränke ohne Eingriffe in die Substanz zu Vitrinen umgebaut und werden nun in den nächsten Jahren immer wieder neue Einblick in die bewegte Nutzungsgeschichte des Hauses von 1933 bis heute geben„, sagt Stork. Die feierliche Eröffnung lässt aber noch auf sich warten - coronabedingt.