Auch die Feuerwehr stößt immer häufiger auf Widerstand oder wird bei Einsätzen massiv behindert. Foto: dpa

Polizei und Rettungskräfte mussten sich in der Silvesternacht bundesweit vieler Angriffe erwehren. Die Hemmschwelle sinkt. Pöbeleien und Attacken gehören mittlerweile selbst für Ärzte zum Alltag.

Stuttgart - Der Fall hat bundesweit Schlagzeilen gemacht. Erst ein paar Wochen ist es her, dass in Berlin ein Notruf aus einem Kindergarten eingeht. Ein Junge ist beim Spielen im Freien bewusstlos zusammengebrochen, jede Sekunde zählt. Ein Rettungswagen rückt aus, parkt vor dem Gebäude. Die Helfer spurten los, wollen das Kind wiederbeleben. Doch sie werden abrupt ausgebremst. Ein Autofahrer, dessen Fahrzeug vom Rettungswagen blockiert wird, tritt ihnen entgegen. „Verpisst euch, ich muss zur Arbeit“, soll er laut Zeugen gerufen haben. Er malträtiert das Einsatzfahrzeug mit Fußtritten, schlägt den Außenspiegel ab. Als die Polizei dazukommt und ihn an weiteren Angriffen hindert, sagt der 23-Jährige: „Mir doch egal, wer hier gerade reanimiert wird.“

Immer häufiger stoßen Helfer auf Widerstand. Und zwar nicht nur die Polizei, für deren Leute schwindender Respekt und wachsende Gewaltbereitschaft schon trauriger Alltag sind. Nein, auch Rettungsdienstmitarbeiter, Feuerwehrleute, Ärzte und Pflegepersonal werden immer häufiger Ziel von Attacken. Seien es Gaffer, die Einsätze behindern, aggressive Patienten, Beleidigungen, Pöbeleien oder gar massive Angriffe wie an Silvester in Berlin.

„Das verschärft sich“, sagt ein Rettungsassistent aus dem Raum Stuttgart. Der Respekt vor den Helfern nehme flächendeckend ab. Gefährlich seien dabei nicht so sehr die Szenarien, in denen schnell erkennbar sei, dass es brenzlig werden könnte. „Werden wir zu einer Schlägerei gerufen, halten wir uns zurück, bis die Lage sicher ist“, erzählt er. Viel schwieriger seien Situationen, die vorher nicht absehbar sind. Alfred Brandner aus Schwäbisch Gmünd, der selbst über fast 30 Jahre Erfahrung im Rettungsdienst verfügt und seit längerem Kurse zum Thema Selbstschutz anbietet, spricht vom „plötzlichen Ausflippsyndrom“. Das bedeutet: „Aus einer ganz normalen Einsatzlage entwickelt sich plötzlich eine gefährliche Situation. Patienten schlagen, treten, beißen“, so Brandner. Besonders schlimm wird es, wenn Alkohol, Drogen oder psychische Erkrankungen im Spiel sind. Doch auch Attacken durch Außenstehende wie in Berlin nehmen zu.

Attacken mit Schwert und Beleidigungen

Fälle gibt es aus dem ganzen Bundesgebiet zuhauf. In Stuttgart will an Silvester der Rettungsdienst einer Person helfen, die an der S-Bahn-Station Schwabstraße einen epileptischen Anfall erlitten hat. Während die Polizei den Bereich absperrt, kommt ein unbeteiligter 24-Jähriger dazu. Er behindert und beleidigt die Einsatzkräfte fortlaufend, verletzt zwei Bundespolizisten leicht. Die Beamten greifen schließlich zu Pfefferspray. Im bayerischen Schwarzenfeld rufen eine Frau und ihr Partner nach heftigem Genuss von Alkohol und Medikamenten den Rettungsdienst. Als der eintrifft, werden die Helfer beleidigt und mit einem 95 Zentimeter langen Schwert bedroht. In Fürth regt sich ein Autofahrer so sehr über einen Rettungswagen auf, der sein Auto zuparkt, dass er kurzerhand einsteigt, das Einsatzfahrzeug umparkt, den Schlüssel auf den Boden wirft und die Retter beschimpft. Und Rettungshubschrauber werden mittlerweile regelmäßig von rücksichtslosen Drohnenpiloten behindert, die die Einsätze filmen und ins Internet stellen wollen.

„Wir sehen keine gute Entwicklung. Eine gewisse Verrohung ist zweifellos da“, sagt Udo Bangerter vom Deutschen Roten Kreuz. Der Sprecher des Landesverbandes Baden-Württemberg berichtet vor allem von Respektlosigkeit, Aggressionen und Handgreiflichkeiten. Die Zahl der Fälle steige, allerdings auch die der Einsätze. Richtige Statistiken über die betroffenen Retter gibt es bundesweit nicht. Im Rettungsdienst etwa teilen sich diverse Organisationen mit ihren regionalen Ablegern den Markt – da wäre eine Erhebung ein schwieriges Unterfangen. „Leider gibt es kaum Zahlen dazu“, so Bangerter. Man könne nur eines sagen: Die Zahl der schweren Gewaltdelikte gegen die Mitarbeiter steige zum Glück kaum.

Doch die Zahl der Opfer geht nach oben. Denn zumindest einige landesweite Erhebungen gibt es tatsächlich. Gut untersucht ist die Zahl der Straftaten gegen Polizeibeamte. Laut Innenministerium ist sie von 2015 auf 2016 um mehr als 900 auf 8981 gestiegen. 2010 Beamte wurden dabei verletzt. Für das vergangene Jahr erwartet das Ministerium „einen leichten Anstieg“. Das Landeskriminalamt führt zudem eine Statistik über die Opferzahlen in weiteren Berufsgruppen. So sind in den vergangenen Jahren auch immer mehr Feuerwehrleute, Rettungsdienstmitarbeiter und Ärzte im Einsatz durch Übergriffe verletzt worden. 2017 erwartet man hier erstmals über 100 Leicht- und Schwerverletzte. Dazu kommen annähernd 200 weitere Verletzte in Pflegeberufen, also etwa in Krankenhäusern.

Ruf nach härteren Strafen

Die Vertreter der betroffenen Berufsgruppen sind alarmiert. Polizei- und Feuerwehrgewerkschaften fordern bereits seit längerem eine härtere Bestrafung der Täter. Selbst die Ärztevertreter müssen sich inzwischen mit Übergriffen befassen. „Das ist ein Thema, das immer wieder an uns herangetragen wird. Wir haben auch in Baden-Württemberg Fälle, die angsteinflößend sind“, sagt Ulrich Clever. Der Präsident der Landesärztekammer sieht ebenfalls einen Trend zur Respektlosigkeit, aber auch steigenden Druck auf Mediziner durch die Androhung von Anzeigen. „Wir haben inzwischen einen Arbeitskreis Gewalt installiert, der sich mit dem Thema befasst“, sagt er.

Die Reaktionen auf das Phänomen fallen recht unterschiedlich aus. Die Polizei in Baden-Württemberg will mögliche Täter mittels eines künstlichen Auges abschrecken. „Ein wichtiger Baustein auf dem Weg zur Reduzierung der Gewalt gegen Polizeibeamte ist die Einführung von Bodycams“, sagt ein Sprecher des Innenministeriums. Die kleinen Kameras werden auf der Schulter oder an der Brust getragen und können bei Bedarf angeschaltet werden, um das Geschehen aufzuzeichnen. Das soll nicht nur „die Kooperationsbereitschaft erhöhen“, sondern bei Angriffen auch helfen, die Täter zu identifizieren. „Die Polizei wird bis Mitte 2018 flächendeckend mit Bodycams ausgestattet“, heißt es im Ministerium. Das Polizeigesetz ist hierfür geändert worden.

Rettungsorganisationen setzen dagegen auf Deeskalationstechniken. „Unsere Leute werden entsprechend geschult“, sagt Dieter Schütz, Bundessprecher des Deutschen Roten Kreuzes. Hoffnung macht auch das neue Notfallsanitätergesetz. In der veränderten Ausbildung nimmt das Thema Konfliktlösung breiteren Raum ein. Dazu kommen Kurse wie die von Brandner und anderen, die aber nicht von allen Organisationen gern gesehen werden. Brandner sieht dabei einen „Riesennachholbedarf“ vieler Rettungsdienstkräfte in Sachen Kommunikation. Auch wer selbst genervt sei oder angepöbelt werde, müsse sich so im Griff haben, dass sich die Lage nicht verschärft: „Unser Ansehen war früher ein anderes. Inzwischen wird man oft als Depp betrachtet, die Leute reagieren sich an uns ab.“

Fünf Millionen Euro für eine Imagekampagne

Die Bundesregierung hat eine ganz eigene Strategie gefunden: Eine Kampagne soll’s richten. Unter dem Titel „Stark für Dich“ will man seit einigen Monaten mit Plakaten, Anzeigen und Fernsehspots das Ansehen von Polizei und Rettungskräften verbessern. Fünf Millionen Euro stehen dafür bereit – Erfolgsaussichten ungewiss.

Der kleine Junge im Berliner Kindergarten hat überlebt. Weil die Rettungsdienstmitarbeiter unter Polizeischutz ihre Arbeit machen konnten. Der Autofahrer dagegen hat sich diverse Anzeigen eingehandelt. Außerdem wird geprüft, ob er seinen Führerschein verliert. Ein extremer Fall – aber Ausdruck eines klaren Trends.