Auch an Modellen lässt sich die menschliche Anatomie studieren. Doch manche Erfahrungen können Medizinstudenten nur durch die Arbeit an Leichen machen. Foto: nd3000 - stock.adobe.com

Anatomiekurse sind extrem teuer. Mit der Reform des Medizinstudiums könnte die Lehre an menschlichen Leichen zusammengestrichen werden. Welche Folgen hätte das für die Ärzte von morgen?

Stuttgart - Der Leichnam, über den sich Klara Stock im dritten Semester beugte, war ein Hüne, vielleicht 1,90 Meter groß. Behutsam setzte sie das Skalpell an. Aber es floss kein Blut, denn der gelbliche Leib des Körperspenders war mit Ethanol und Formaldehyd konserviert. Auch im Körperinneren war alles riesig. Die Halsschlagader war so dick, dass zwei ihrer Finger hineinpassten. Das Herz des Toten lag wuchtig in Stocks Hand. „Das sah doch anders aus als im Lehrbuch“, erinnert sich die Medizinstudentin am Universitätsklinikum Halle. Vor allem die große Variabilität der Gewebe überraschte sie.

Wenn sie heute am OP-Tisch steht und sich etwa vergegenwärtigen muss, wo die Gallenblase liegt, kommen ihr wieder die Bilder des Hünen. „Ich überlege, wie sah das aus, wo lag das. Was haben wir hochgehoben und welche Gewebe beiseitegelegt.“ Nur, was man angefasst, hochgehoben und gedreht hat, kann man wirklich begreifen, meint die Anatomin Heike Kielstein von der Universitätsklinik Halle. Das Zergliedern der Leichen hat eine lange Tradition an den medizinischen Fakultäten. „Ich kämpfe wie eine Löwin für den Erhalt dieser Veranstaltung“, so Kielstein.

Aus gutem Grund: Nicht alle mögen die Lehre an den Toten. Der Anatomiekurs ist mit Abstand der teuerste Kurs im Medizinstudium. Pro Körperspender fallen vier- bis fünfstellige Beträge an, die Unterhaltung der Institute nicht eingerechnet. Herbert Lippert, ein berühmter deutscher Anatom, fand das Zergliedern der Leichen schon in den Siebzigerjahren nicht mehr zeitgemäß. Er fordert bis heute öffentlich „das Ende dieser Pflichtveranstaltung“.

Virtueller Präpariersaal

In Mannheim wurde das Medizinstudium 2006 neu organisiert. Studierende präparieren dort nur noch zwei Wochen an der Schwesterfakultät in Heidelberg eine Leiche. Die European Medical School in Oldenburg verfügt nur noch über einen virtuellen Präpariersaal. Der Bund will das Medizinstudium ab 2020 reformieren und praxisnäher gestalten. Der traditionelle Anatomiekurs könnte ein Kürzungskandidat sein, fürchtet Kielstein.

Um Spendermangel oder ethische-religiöse Bedenken geht es nicht: 25 Leichen benötigen die Studierenden in Halle im Jahr. Dem stehen hunderte Körperspender auf der Warteliste gegenüber, die noch zu Lebzeiten ihren toten Körper für Forschung und Lehre zur Verfügung stellen. Wegen des großen Andrangs nehme man nur noch Anwärter aus dem Raum Halle, sagt Kielstein. „Der Grund für die Nachfrage ist die günstige Form der Bestattung: 750 Euro verglichen mit etlichen tausend bei konventioneller Beisetzung.“

In Mannheim gibt es keine Warteliste für Körperspender. 2006 wurde dort ein modulares Studium eingeführt. Die Studierenden lernen nach Körperfunktionen – Verdauung, Bewegungsapparat, Nervensystem. Das Präparieren einer ganzen Leiche passt schlecht in dieses Konzept. In jedem Semester müsste ein anderer Bereich des Toten geöffnet werden. Deshalb haben sich die Mediziner für eine andere Lösung entschieden: Die Anatomie vermitteln sie vor allem an Modellen, die aus dem Plastinarium des Gunther von Hagens stammen. Das sind Torsi, Gehirne und Körperscheiben – konserviert und hart wie Plastik. „Unsere Studierenden schneiden verglichen mit anderen Universitäten sehr gut ab. Sie erlernen die Anatomie genauso gründlich“, so der Mannheimer Neuroanatom Christian Schultz. Die Studierenden haben sich an das Lernen an Plastinaten gewöhnt. „Die sind hart, nicht glitschig. Sie riechen nicht und man hat weniger Angst“, sagt der 22-jährige Medizinstudent Philipp Lautenschläger.

Haptisches Erleben ist wichtig

In dem zweiwöchigen Kurs an echten Leichen habe er kaum etwas zusätzliches gelernt. Marie Hofmann, die ebenfalls in Mannheim studiert, hat die vierzehn Tage Ausbildung an der echten Leiche noch vor sich. „Ich möchte einen Körper von innen sehen, bevor es im OP passiert“, sagt sie. Sie findet es zwar gut, an Plastinaten zu lernen, aber das haptische Erleben fehlt ihr. „Die Darmschlinge, die beweglichen Bauchorgane, das bleibt doch recht abstrakt. Bei den Modellen kann ich nichts rausnehmen.“

Hofmann und Lautenschläger sind nicht unzufrieden mit der Anatomielehre ihrer Fakultät. Sie trauen sich aber auch kein abschließendes Urteil zu. „Ich will mir nicht anmaßen zu sagen, was besser ist, weil ich den ausgedehnten Anatomiekurs nicht kenne“, so Lautenschläger. Als Alternative zur Lehre an Toten florieren digitale Seziertische und Software für virtuelle Leichen. Nahezu jede Uni arbeitet auch damit.

Daran habe er jedoch die dreidimensionalen Gewebe schlecht erkennen können, erinnert sich Lautenschläger. Am Computer kann man zwar in die Leber hineinscrollen oder durch das Gehirn klicken, aber die Darstellungen bleiben zweidimensional und sind damit näher an der Abbildung im Lehrbuch als am Eindruck, der sich beim Öffnen eines Leibes bietet.

Scheu vor echten Patienten

Herbert Lippert, Gegner des Präparierens von Leichen, ersann indes „die Anatomie am Lebenden“. Die Studierenden ertasten Schulterblätter, Schlüsselbein und Aorta bei Kommilitonen. „Diesen Kurs finden sie oft schrecklich, weil sie sich ausziehen müssen und in Bikini und Badehose voreinander stehen“, berichtet Kielstein. Sie lehrt dennoch auch diese Variante – zusätzlich zur Lehre an der Leiche: „Viele Ärzte haben heute aufgrund der Digitalisierung der Medizin Scheu, Patienten zu berühren und abzutasten. Diese sinnliche Information ist aber sehr wichtig“, so Kielstein. Zum Beispiel lassen sich Rückenschmerzen mit einer Untersuchung des Körpers genauer diagnostizieren als mit den verbreiteten MRT-Scans.

Bei einem Praktikum an einer griechischen Klinik lernte die Studentin Klara Stock viele angehende Ärzte kennen, die nie eine Leiche eröffnet hatten. In einigen EU-Ländern sind Anatomiekurse unüblich. „Ich war erschrocken, dass die Mediziner dort oft selbst beklagten, dass sie gar nicht genau wüssten, wie dieses oder jenes Gewebe aussehe. Sie fühlten sich bei den OPs dadurch unsicherer als ich. In einen lebenden Patienten kann man nicht einfach so hineinfassen, weil man mal die Leber sehen und spüren will“, sagt Stock.

Zum Arztberuf gehört auch die Leichenschau, bei der man den toten Körper entkleiden, drehen und in Augenschein nehmen muss. Schon lange gibt es Kritik, weil immer wieder falsche Todesursachen in den Papieren auftauchen. Eine der Ursachen: Die Ärzte fassen das Opfer nicht an. Berührungsängste vor dem unangenehm riechenden Leichnam sind ein wichtiges Motiv, aber auch schlechte Bezahlung. Die Hallenser Anatomin Heike Kielstein sagt: „Im Anatomiekurs lernen die Studierenden den Umgang mit einer Leiche. Sie erfahren ganz anschaulich, was Krankheiten im Körper machen.